HEILBRONN (dpa/lsw) — Mal ruft ein angeb­li­cher Enkel an, mal ein Staats­an­walt oder Arzt. Ihr Ziel: das Geld der Angeru­fe­nen. Dazu nutzen Krimi­nel­le zuneh­mend die skrupel­lo­se Masche des «Schock­an­rufs». Die Zahl der Fälle ist nach oben geschos­sen, allen Warnun­gen zum Trotz.

Der Anruf muss der 58-Jähri­gen durch Mark und Bein gegan­gen sein. Die Stimme am anderen Ende der Leitung erzählt von der Tochter der 58-Jähri­gen. Diese habe ein Kind überfah­ren, auch ein angeb­li­cher Staats­an­walt ist am Apparat, ein vorgeb­li­cher Vertei­di­ger wird ebenfalls zugeschal­tet. Der Tochter drohen Jahre hinter Gittern, heißt es, wenn nicht bald eine Viertel­mil­li­on Euro als Kauti­on überwie­sen werde, auch Schmuck und Goldbar­ren werden gefor­dert. Spätes­tens da muss die Frau aus Bad Wimpfen den Braten gerochen haben, sie kennt diese Betrugs­ma­sche und dreht den Spieß um. Bei der vermeint­li­chen Geldüber­ga­be in Heilbronn schlägt die Polizei zu, am Mittwoch nun sehen sich Opfer und Anrufe­rin vor dem Amtsgericht.

Alles andere als ein Einzel­fall, auch nicht für baden-württem­ber­gi­sche Gerich­te. Und allzu oft gehen die Opfer den Betrü­gern auf den Leim: Die Zahl der sogenann­ten Schock­an­ru­fe bei vornehm­lich älteren Menschen ist in den vergan­ge­nen Jahren förmlich explo­diert. Inner­halb von nur fünf Jahren sei sie von 17 bekannt gewor­de­nen Anrufen im Jahr 2017 auf zunächst 319 Fälle im Jahr 2020 und sogar 2157 regis­trier­te Fälle im Jahr darauf hochgeschnellt.

Das Ende ist damit nach Angaben des Innen­mi­nis­te­ri­ums bei weitem nicht erreicht: «Für das Jahr 2022 zeich­net sich bislang ein Anstieg der betrü­ge­ri­schen Anrufstraf­ta­ten ab», teilte die Behör­de mit. Außer­dem ist die Dunkel­zif­fer Exper­ten zufol­ge sehr hoch, weil sich viele Opfer schämen und keine Anzei­ge erstat­ten. Genaue Zahlen sollen erst mit der Polizei­li­chen Krimi­nal­sta­tis­tik im Frühjahr bekannt werden.

Beim sogenann­ten Enkel­trick melden sich angeb­li­che Verwand­te wegen eines vorge­täusch­ten finan­zi­el­len Engpas­ses oder weil sie für den sofor­ti­gen Kauf einer Immobi­lie Geld benöti­gen. Die Zahl dieser Art von Anrufe sinkt weiter.

Bei der Masche «Schock­an­ruf» rechnen Betrü­ger hinge­gen skrupel­los mit der Schock­star­re erschüt­ter­ter Opfer. Die Krimi­nel­len täuschen als angeb­li­che Kinder, Enkel, vermeint­li­che Polizei­be­am­te oder Rechts­an­wäl­te eine Notla­ge oder gar die Lebens­ge­fahr des Angehö­ri­gen vor und treiben ihre Opfer durch eine manipu­la­ti­ve Gesprächs­füh­rung, den Aufbau eines Drohsze­na­ri­os und durch Zeitdruck massiv in die Enge. Der Sozio­lo­ge Chris­ti­an Thiel, der an der Uni Augsburg unter anderem die Hinter­grün­de von Betrugs­ta­ten erforscht, spricht von einem «Werkzeug­kas­ten mit typischen Täuschungs­tak­ti­ken, die sie wie Baustei­ne zu unter­schied­li­chen Betrugs­ma­schen zusammensetzen».

Nach Angaben des Landes­kri­mi­nal­am­tes (LKA) spiel­te während der Pande­mie eine plötz­li­che schwe­re Erkran­kung am Corona-Virus eine Rolle, oft geht es um den tödli­chen Verkehrs­un­fall eines Bekann­ten oder oder die drohen­de Inhaf­tie­rung im Ausland. Die Täter erkun­di­gen sich nach Bargeld, Münzen oder Schmuck, die der Angehö­ri­ge dann etwa einem vermeint­li­chen Staats­an­walt oder Polizis­ten überge­ben soll. Oft holten auch Boten Geld oder Wertge­gen­stän­de selbst an der Haustür des Betrof­fe­nen ab.

Die überaus meisten Anrufe kommen aus dem Ausland, fast immer trifft es ältere Menschen. Die organi­sier­ten Banden machen dabei enorme Beute — zum Teil im sechs­stel­li­gen Bereich, weil so mancher Senior den Betrü­gern seine gesam­ten Erspar­nis­se ausge­hän­digt: Geld, Schmuck, ja sogar Goldbar­ren wechsel­ten auf diese Weise den Besit­zer. Insge­samt ein lukra­ti­ves Vorge­hen: Nach Angaben des Innen­mi­nis­te­ri­ums erbeu­te­ten die meist unbekann­ten Anrufer durch Anrufe als «falsche Polizis­ten» oder «Enkel» sowie durch Schock­an­ru­fe im Jahr 2021 insge­samt rund 15,2 Millio­nen Euro (2020: 14,4 Mio.). Die überaus meisten Anrufe (rund 96 Prozent) bleiben aber erfolglos.

Innen­mi­nis­ter Thomas Strobl (CDU) kennt das Phäno­men aus dem eigenen Bekann­ten­kreis: «Eine Mutter, die wirklich tough ist und mit beiden Beinen fest im Berufs­le­ben steht, wurde angeru­fen, ihre Tochter habe im Ausland einen schwe­ren Verkehrs­un­fall verur­sacht und sitze in Unter­su­chungs­haft», erinnert er sich. Menschen würden in einen Ausnah­me­zu­stand versetzt durch die Angst um das, was ihnen am liebs­ten sei, ihre Familie, ihre Freun­de. «Die Vernunft wird durch den Schock ausge­schal­tet», sagt Strobl. «Wie fremd­ge­steu­ert heben da auch wirklich gestan­de­ne Menschen unter Schock große Geldsum­men von der Bank ab.»

Gefragt sind aus seiner Sicht nicht zuletzt die Geldin­sti­tu­te: «Wir brauchen da auch den Bankan­ge­stell­ten, der mitdenkt, der zweifelt und der misstrau­isch wird und nachfragt, wenn da eine ältere Kundin von ihm mit Schweiß­per­len auf der Stirn, leichen­blass und mit zittri­ger Hand 50 000 Euro abheben möchte», sagt Strobl. «Da ist Einfüh­lungs­ver­mö­gen, gesun­der Menschen­ver­stand und Kunden­bin­dung gefragt.»

Von Martin Oversohl und Nico Point­ner, dpa