Also beson­ders lang sind sie jetzt nicht mehr, die Kreuz­ber­ger Nächte. In Berlin gilt seit dem Wochen­en­de eine Sperrstunde.

Damit ist vorerst Schluss. In Berlin gilt nun eine Sperr­stun­de. Weil immer mehr Menschen sich mit dem Corona­vi­rus infizie­ren, verschärft die Metro­po­le die Regeln. Wird das etwas bringen?

Es ist Freitag­abend in Neukölln. Ein Mädchen mit flauschi­ger Stola läuft über die Weser­stra­ße. Kurz darauf betritt eine Frau mit 90er-Jahre-Plateau­soh­len einen Späti. Draußen bilden sich Pfützen auf den Pflas­ter­stei­nen. Es ist Herbst geworden.

Die vergan­ge­nen Monate haben viel gelehrt. Darüber, was Vorschrif­ten mit Menschen machen — und eine Pande­mie mit der Gesell­schaft. Man konnte lesen, wie Menschen aus Solida­ri­tät auf Balko­nen applau­dier­ten. Wie die Politik um Vorga­ben stritt. Und wie sich Menschen mit illega­len Partys einen Ausweg suchten.

Nun appel­liert Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel vor allem an junge Leute, sich an Regeln zu halten. In Großstäd­ten steigt die Zahl neuer Infek­tio­nen. Berlin, Frank­furt, Bremen — mehre­re Städte zählten in einer Woche zuletzt mehr als 50 Neuin­fek­tio­nen pro 100 000 Einwohner.

Nun gilt auch in der deutschen Haupt­stadt: Whiskey Sour gibt’s nicht mehr die ganze Nacht. Bars, Restau­rants und die meisten Geschäf­te müssen zwischen 23.00 Uhr und 06.00 Uhr schlie­ßen. Draußen darf man nachts nur mit wenigen Leuten unter­wegs sein. «Ernst­haft: Was soll diese beschis­se­ne Sperr­stun­de eigent­lich bringen?», flucht ein Typ auf Englisch, als er durch den Kiez läuft.

Bis eben waren die Bars dort gut besucht. Dann packen tatsäch­lich viele Betrei­ber ihre Tische zusam­men. Fragt man die Leute, was sie davon halten, fallen die Meinun­gen unter­schied­lich aus. «Ich bin froh, dass das jetzt so kommt», sagt Ryan. «Es ist ja offen­sicht­lich, dass die Leute sich nicht unter Kontrol­le haben.»

Anders sieht das eine junge Frau. Sie halte das nicht für förder­lich, weil sich die Partys einfach ins Priva­te verla­ger­ten — und damit die Kontakt­ver­fol­gung schwe­rer werde. Das Argument hört man auch aus der Gastro­sze­ne. «Ordnungs­be­hör­den werden große Schwie­rig­kei­ten haben, die Hygie­ne­re­geln in Privat­woh­nun­gen oder in den über 2500 Parks und Gärten der Stadt zu kontrol­lie­ren», warnte auch die Clubcommission.

Für Barbe­sit­zer bedeu­tet die Sperr­stun­de weniger Umsatz. Vor allem zwischen 22.00 Uhr und 02.00 Uhr verdie­nen sie Geld. Auch Sozio­lo­gin Talja Blokland erinnert daran. Einem Teil der Menschen mache die Sperr­stun­de nicht viel aus, weil der ohnehin nicht nachts unter­wegs sei. Aber es treffe zum Beispiel Menschen, die nachts ihr Geld verdie­nen müssten, etwa auch Taxifah­rer und Tellerwäscher.

«Es wird argumen­tiert, dass Partys der Grund für die steigen­den Infek­ti­ons­zah­len seien. Das braucht in der Öffent­lich­keit klare Belege», findet die Profes­so­rin vom Georg-Simmel-Zentrum für Metro­po­len­for­schung an der Humboldt-Univer­si­tät. Die Politik müsse dann sagen, dass zum Beispiel von 200 Corona­fäl­len 160 auf eine Party in einem Park zurück­zu­füh­ren seien.

Ihrer Meinung nach wäre es inter­es­sant, Infek­ti­ons­zah­len gemes­sen an Haushal­ten auszu­wei­sen. Dann könne man nachvoll­zie­hen, ob vielleicht Infek­tio­nen in wenigen Haushal­ten zum Anstieg führten. Ihre Hochschu­le will mit einer Umfra­ge erfor­schen, was die Menschen während der Pande­mie vermis­sen und wie sich Einschrän­kun­gen etwa auf das Vertrau­en in Politik auswirken.

«Es kommt rüber, als wären Bars und Cafés zum Feiern da und nichts Notwen­di­ges», sagt sie. Aber wenn man sich frage, wie man lerne, von Jobmög­lich­kei­ten erfah­re oder politisch Neues höre, dann gesche­he das dort, wo man neue Menschen treffe. «Zu glauben, das seien nur Orte zum Feiern, ist sozio­lo­gisch eine sehr kurz gefass­te Vorstellung.»

Ihrer Einschät­zung nach kann sich die Sperr­stun­de auch auf das Sicher­heits­ge­fühl in der Stadt auswir­ken. «Wir brauchen volle U‑Bahnhöfe, um abends das Gefühl zu haben, sicher nach Hause zu kommen. Wenn die Stadt um 23.00 Uhr zumacht, ist das nicht mehr da. Man kann sagen: “Das ist es uns wert.” Aber man muss es bedenken.»

In Neukölln lösen sich die Grüpp­chen nachts irgend­wann auf. Eine Gruppe hat schon lange vor der letzten Runde übers Handy ein Uber-Auto bestellt. Gefei­ert werde dann eben daheim.

Was geschlos­se­ne Bars mit den Menschen machten, konnte man in den Monaten zuvor beobach­ten. Etwa am «Karton-Faktor». Im Frühjahr waren Kneipen dicht. Viele holten sich dann ein Bier und eine Pizza. Auf öffent­li­chen Plätzen sammel­ten sich die Kartons. Generv­te Anwoh­ner teilten Fotos in sozia­len Medien und mussten sich selbst­kri­tisch fragen: Sind wir jetzt doch spießig geworden?

Jetzt gilt eine Sperr­stun­de, ausge­rech­net in Berlin. Früher fuhren Touris­ten aus anderen Bundes­län­dern eigens nach West-Berlin, um nachts durch die Bars zu ziehen. «Kreuz­ber­ger Nächte sind lang. Erst fang’se janz langsam an, aber dann…» Die vergan­ge­nen Jahre kamen Menschen mit Billigfliegern.

Mittler­wei­le sind die Clubs seit Monaten geschlos­sen. In einem der bekann­tes­ten Techn­obun­ker der Welt, dem Berghain, wird statt­des­sen Kunst gezeigt. Manche fragen sich, was im nächs­ten Jahr von der Szene übrig bleiben wird. Mehre­re Gastro­no­men wollen mit einem Eilan­trag bei Gericht gegen die Sperr­stun­de vorge­hen. «Corona, alles Business kaputt», sagt ein Passant am Wochenende.

Kultur­se­na­tor Klaus Lederer hatte gemahnt, ob die Verschär­fun­gen wirkten, werde sich frühes­tens in 14 Tagen zeigen. «Bis dahin wird die Inzidenz weiter steigen & sie steigt drama­tisch», twitter­te er.

Für Menschen, die gerne feiern, wird es ein schwie­ri­ger Winter. Bleibt noch die Möglich­keit, daheim allei­ne eine Playlist anzuma­chen. Um dann ein Rezept für «Negro­ni Sbagli­a­to» zu googeln. Aber da muss man dann auch irgend­wie wieder aufpas­sen — nämlich mit den Nachbarn. Das gilt selbst im eigent­lich so freien Berlin.