PEKING (dpa) — Vom Fabrik­di­rek­tor zum «starken Mann» Chinas: Jiang Zemin wurde oft belächelt, übte aber im Alter hinter den Kulis­sen noch lange großen Einfluss aus. Xi Jinping zeigte ihm die Rote Karte.

Jiang Zemin hatte lange Mühe, als großer Führer in die Geschich­te einge­hen zu können. Er war 13 Jahre Chinas Staats­ober­haupt und Vorsit­zen­der der Kommu­nis­ti­schen Partei. Doch war er nie für seine Visio­nen bekannt, sondern wirkte eher als Sachver­wal­ter und Kompro­miss­fi­gur verschie­de­ner Strömun­gen in der Partei. Erst nach dem Wechsel 2002 zur Führungs­ge­nera­ti­on mit Hu Jintao an der Spitze schien Jiang Zemin den Höhepunkt seiner Macht erreicht zu haben: Lange zog er als «starker Mann» im Hinter­grund die Fäden. Jetzt ist er im Alter von 96 Jahren gestor­ben, wie staat­li­che Medien am Mittwoch berichteten.

Im Gegen­satz zu anderen chine­si­schen Spitzen­po­li­ti­kern, die sich nach ihrem Abtritt aus der Öffent­lich­keit zurück­zo­gen, genoss der zur Eitel­keit neigen­de Jiang Zemin weiter das Rampen­licht. Er sei «auf eine Weise der erste moder­ne Präsi­dent Chinas» gewesen, schrieb Willy Lam, Autor einer Biogra­fie über den Politi­ker: Wegen seiner Fähig­keit, «die Medien zu seinem Vorteil zu manipulieren»

Nach seinem Rückzug aus dem Amt 2002 ließ sich Jiang Zemin mit jungen Mädchen an der Uferpro­me­na­de Shang­hais ablich­ten, setzte seine Inspek­ti­ons­be­su­che im Lande wie früher fort und nahm zum Verdruss seines Nachfol­gers Hu Jintao weiter Einfluss auf wichti­ge Perso­nal­ent­schei­dun­gen. Doch nach dem nächs­ten Genera­ti­ons­wech­sel 2012 zum heuti­gen Staats- und Partei­chef Xi Jinping brach­te ihm diese Strip­pen­zie­her-Rolle Ärger ein.

Gut vernetzt

Die Anti-Korrup­ti­ons-Kampa­gne des neuen Präsi­den­ten, der sich gegen Wider­stand in der Partei wehren musste, zielte auch auf das bis hoch in die Militär­spit­ze reichen­de Netzwerk von Jiang Zemin. 2015 kriti­sier­te das Partei­or­gan «Volks­zei­tung» nicht näher genann­te «pensio­nier­te Führer», die sich an die Macht klammer­ten und weiter einmisch­ten, was als Botschaft an Jiang Zemin verstan­den wurde.

Jiang Zemin hinter­ließ China die häufig belächel­te Leitli­nie der «Drei Vertre­tun­gen» (Sange Daibiao) und öffne­te die Partei damit «fortschritt­li­chen Produk­ti­ons­kräf­ten», sprich Privat­un­ter­neh­mern. Die vage Theorie war eine Anpas­sung an die Reali­tät und diente Jiang Zemin dazu, sein ideolo­gi­sches Manko auszu­glei­chen und mit Deng Xiaoping und Mao Tsetung gleich­zu­zie­hen. Sein Gedan­ken­gut wurde in der Verfas­sung veran­kert, sein Name — anders als bei seinen beiden großen Vorgän­gern — aller­dings nicht.

In den vergan­ge­nen Jahren gab es immer wieder Gerüch­te über seinen Tod. Umso mehr Bewun­de­rung weckte Jiang Zemin, wenn er trotz seines hohen Alters wieder quick­le­ben­dig auftrat. Beim Partei­tag 2017 verfolg­te er auf dem Podium mit einer großen Lupe die dreistün­di­ge Rede von Staats- und Partei­chef Xi Jinping über den «Sozia­lis­mus für eine neue Ära». Er schien aber Lange­wei­le oder gar Respekt­lo­sig­keit zu zeigen, indem er mit weit geöff­ne­tem Mund gähnte oder wieder­holt auf die Uhr schau­te, was noch zu seiner Popula­ri­tät beitrug.

Nur vorder­grün­dig verehrt

Im Volk wurde er gerne «der Senior» (Zhang­zhe) genannt. «Hinter der Nostal­gie für Jiang Zemin steckt aber nicht notwen­di­ger­wei­se eine echte Vereh­rung oder Zustim­mung zu seinem harschen Regie­rungs­stil, sondern eher Ableh­nung gegen­über dem gegen­wär­ti­gen Führer Xi Jinping», schrieb Lotus Yang Ruan in «The Diplomat».

Bekannt war Jiang Zemin (geboren am 17. August 1926) für seine Liebe zur Poesie. Gegen­über Staats­gäs­ten gab er gerne mit seinen Kennt­nis­sen von Goethe oder Shake­speare an. Doch Wertvor­stel­lun­gen westli­cher Autoren fielen bei ihm nie auf frucht­ba­ren Boden. «Das westli­che Politik­mo­dell darf niemals kopiert werden.» Politi­sche Refor­men schloss er aus. «Chinas politi­sches System darf niemals erschüt­tert werden.»

Menschen­rech­te kannte er nur als Recht auf Existenz. Alle Fakto­ren, die die Stabi­li­tät gefähr­de­ten, sollten «im Keim erstickt» werden, verkün­de­te Jiang Zemin. Ein Bürger­recht­ler nach dem anderen wander­te in Haft. Die Angst vor Insta­bi­li­tät trieb Jiang Zemin um. Hinter der Unsicher­heit steck­te ein Werde­gang, der durch Zufall bestimmt war.

Nach dem Sturz des Partei­chefs Zhao Ziyang kurz vor der Nieder­schla­gung der Demokra­tie­be­we­gung am 4. Juni 1989 musste Deng Xiaoping einen Kompro­miss­kan­di­da­ten finden. Er fand ihn in dem Techno­kra­ten, der bis dahin Schang­hais Bürger­meis­ter war. Zwar verstand der frühe­re Fabrik­di­rek­tor etwas von Staats­be­trie­ben, aber moder­ne Aktien­märk­te waren ihm suspekt. Unter seiner Regent­schaft wurde 1997 die briti­sche Kronko­lo­nie Hongkong an China zurück­ge­ge­ben, ebenso 1999 die portu­gie­sisch verwal­te­ten Enkla­ve Macao.

Mit dem wachsen­den Gewicht Chinas in der Welt gewann Jiang Zemin auch inter­na­tio­nal an Statur. Nach Protes­ten auf einer Europa­rei­se 1999 sah sich Jiang Zemin zu Unrecht mit Chiles Dikta­tor Augus­to Pinochet vergli­chen. Er empör­te sich gegen­über einem europäi­schen Diplo­ma­ten: «Ich bin doch kein Diktator.»

Von Andre­as Landwehr, dpa