Für die einen war er eine schil­lern­de Figur der Klassik­welt, für die anderen ein sexuell übergrif­fi­ger Macht­mensch. Erneut daher die Frage, inwie­weit die Musik des Dirigen­ten noch zu feiern ist.

NEW YORK (dpa) — Wenn James Levine zum Taktstock griff, stand nach Ansicht von San Francis­cos frühe­rem Opern­di­rek­tor David Gockley eine Art Götter­däm­me­rung bevor — selbst wenn Richard Wagners «Ring» an dem Abend nicht auf dem Programm stand.

«Er ist kein gewöhn­li­cher Dirigent», sagte Gockley 2011 über Levine, den einsti­gen Star-Dirigen­ten der New Yorker Metro­po­li­tan Oper und der Münch­ner Philhar­mo­ni­ker. «Er ist ein Gott.»

Übermensch oder nicht — Levines Einfluss auf die ameri­ka­ni­schen Klassik­welt war enorm. Nun ist «Ameri­kas Top-Maestro», wie das Magazin «Time» ihn einmal nannte, im Alter von 77 Jahren gestor­ben. Das bestä­tig­te ein Sprecher des Opern­hau­ses in Manhat­tan am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. «Die Metro­po­li­tan Oper ehrt das Andenken an ihn», hieß es. Zuvor hatten mehre­re US-Medien unter Berufung auf den Arzt des Dirigen­ten berich­tet, dass Levine bereits am 9. März im Alter im kalifor­ni­schen Palm Springs gestor­ben sei. Die Todes­ur­sa­che wurde zunächst nicht bekannt.

Nach seinem langen hohen Aufstieg war Levine zum Abschluss seiner Karrie­re tief gefal­len: Die Anschul­di­gun­gen von mindes­tens neun Männern wegen sexuel­ler Übergrif­fe ließen den teils als Genie gefei­er­ten Musiker tief stürzen. Die Metro­po­li­tan Opera, deren Weltruhm Levine als Chefdi­ri­gent zemen­tiert hatte, warf ihn raus. Er wurde zum bis dahin ranghöchs­ten Vertre­ter der Klassik-Szene, der im Zuge der #MeToo-Bewegung seinen Job verlor. Und wie bei Enter­tai­ner Bill Cosby oder Filmpro­du­zent Harvey Weinstein war die Frage: Lässt sich das Werk eines Künst­lers von persön­li­chem Fehlver­hal­ten trennen?

«Ich bin unsicher, ob die Met Levines Schan­de überle­ben kann», schrieb das «New York Magazi­ne». Das Opern­haus habe Levines Verhal­ten vermut­lich jahre­lang still­schwei­gend hinge­nom­men oder vertuscht, merkte eine Autorin der «Washing­ton Post» an. Und ein Kriti­ker der «New York Times» überleg­te öffent­lich hin und her, ob er seine Sammlung an Levines Musik nicht für alle Zeit aus seinem Regal verban­nen müsse. Levine hatte die Vorwür­fe immer entschie­den zurück­ge­wie­sen. Nach seinem Rauswurf überzo­gen sich das Opern­haus und der Dirigent gegen­sei­tig mit Klagen.

All das schien fast undenk­bar, als der gelock­te Klavier­vir­tuo­se aus Ohio 1953 mit dem Cincin­na­ti Orches­tra sein Debüt als Dirigent feier­te. Sein erwei­ter­tes Handwerk lernte er bei Klavier­päd­ago­gin Rosina Lhévin­ne und an der Juilli­ard School in New York. Der ungari­sche Dirigent George Szell holte ihn zum Cleve­land Orches­tra, wo er von 1965 bis 1972 auch am Cleve­land Insti­tu­te of Music (CIM) lehrte. Aus dieser Zeit und bis 1999 reichen die Vorwür­fe mehre­rer Männer. Es sollte noch Jahrzehn­te dauern, bis das Schlag­wort #MeToo um die Welt ging.

Die Details, die der «Boston Globe» nach Gesprä­chen mit mehr als 20 Studen­ten und Ex-Kolle­gen Levines aufdeck­te, waren erschre­ckend. Wie in einem Kult soll Levine seine als «Levini­ten» bekann­ten Vereh­rer in Cleve­land um sich versam­melt und ihnen vorge­schrie­ben haben, «was sie lesen, wie sie anzie­hen, was sie essen, wann sie schla­fen — sogar, wen sie lieben». Bei ihm zu Hause soll er sie stren­gen musika­li­schen Tests unter­zo­gen und sie zum Sex gedrängt haben. Andere Männer berich­te­ten von «unange­mes­se­nen Berüh­run­gen», gemein­sa­men sexuel­len Handlun­gen oder Anspie­lun­gen darauf.

Rund 40 Jahre war die Met im Herzen Manhat­tans das künst­le­ri­sche Zuhau­se des Dirigen­ten. Seine offene, verein­nah­men­de Art schim­mer­te auch bei Proben mit dem Orches­ter durch. Vor Publi­kum dirigier­te er dann mit der Effizi­enz eines Managers. Zum 25. Jubilä­um seiner ersten Met-Auffüh­rung feier­te ihn das Opern­haus mit einer Fernseh­ga­la — es sagten so viele Sänger zu, dass Levine acht Stunden dirigier­te. Sein Reper­toire umfass­te Bach und Haydn, aber auch unbekann­te­re Namen wie den franzö­sisch-griechi­schen Kompo­nis­ten Iannis Xenakis. Parti­tu­ren inter­pre­tier­te Levine auf leben­di­ge, klare und gerad­li­ni­ge Weise.

Selbst Klassik­fans der alten Garde kamen um ihn nicht herum. Bei den Salzbur­ger Festspie­len dirigier­te Levine Mozart, in Bayreuth machte er sich als Wagner-Kenner einen Namen. Mit ausge­dehn­ten Konzert­tour­neen festig­te er den Namen der Met in Zeiten, als die Ameri­ka­ner zwar für Pop oder Jazz, aber selte­ner für grandio­se Klassik bekannt waren. Seine Arbeit bei der Met sah er als Vollzeit-Job, wenngleich er 1999 bis 2004 zugleich Chefdi­ri­gent der Münch­ner Philhar­mo­ni­ker war. Bei der Met dirigier­te Levine mehr als 2500 Auffüh­run­gen von 85 Opern. Nur gelegent­lich trat er paral­lel als Pianist auf.

Am Ende mussten Zuhörer selbst entschei­den, ob sie Levine den Rücken kehren wollten. Das Boston Sympho­ny Orches­tra, wo Levine von 2004 bis 2011 als musika­li­scher Direk­tor am Pult stand und das zu den besten Sympho­nie­or­ches­tern der USA gezählt wird, ging auf Distanz. Levine werde dort nie wieder angestellt oder unter Vertrag genom­men, hieß es.

Gesund­heit­li­che Beschwer­den — Levine dirigier­te zuletzt im Rollstuhl mit Hilfe zweier Assis­ten­ten — kamen in seinen letzten Lebens­jah­ren als Belas­tung hinzu. Sein letzter Auftritt an der Met war im Dezem­ber 2017 — 46 Jahre nach seinem Debüt dort.