MONTREUX — Das große Comeback des Montreux Jazz Festi­vals hat alle seine Verspre­chen gehal­ten. Insge­samt haben mehr als 250.000 Festi­val­be­su­cher die 56. Ausga­be unter einem strah­len­den Himmel während der gesam­ten Dauer der Veran­stal­tung genos­sen. Wie das Lake House wurden die neuen gratis Bühnen vom ersten Tag an vom Publi­kum gestürmt, was die Heraus­for­de­rung des Festi­vals, sein Format neu zu erfin­den, auf schöns­te Weise bestätigte.

Die 56. Ausga­be des Montreux Jazz Festi­vals war von einer außer­ge­wöhn­li­chen Begeis­te­rung geprägt. Das Publi­kum fand nicht nur die Uferpro­me­na­de und die symbol­träch­ti­gen Säle wieder, sondern machte sich auch die neuen, gratis zugäng­li­chen Bühnen zu eigen, die sich die Festi­val-Teams Anfang des Jahres ausge­dacht hatten. Anstatt die Veran­stal­tung eins zu eins zu wieder­ho­len, setzte das Montreux Jazz Festi­val auf Innova­ti­on, schuf neue Projek­te und konzen­trier­te sich mehr denn je auf das Erleb­nis der Festivalbesucher.

Das Lake House, die größte Neuheit der diesjäh­ri­gen Ausga­be, hatte sich viel vorge­nom­men: Auf drei Etagen sollte eine Fülle von kultu­rel­len, künst­le­ri­schen und festli­chen Erleb­nis­sen in der Privat­sphä­re von acht Sälen des Petit Palais geboten werden. Das Ergeb­nis: Ein breites Publi­kum war von diesem facet­ten­rei­chen Projekt begeis­tert. Von 17 Uhr bis 5 Uhr morgens kamen alle Genera­tio­nen zusam­men und staun­ten über Konzert­vor­füh­run­gen im Cinéma, lausch­ten religi­ös Live at Montreux Vinyl in der Biblio­t­hè­que, entdeck­ten (wieder) den Retro-Zauber eines Flippers oder einer Jukebox im Boudoir, feier­ten in der Coupo­le und ließen sich von Jam Sessi­ons und Konzer­ten junger Jazzkünst­ler im Memphis berieseln.

Dank des paradie­si­schen Wetters während der sechzehn Tage des Festi­vals konnten die Bühnen am See ihr idylli­sches Poten­zi­al voll entfal­ten, indem sie Infra­schall und sternen­kla­re Nächte auf dem Ipane­ma, festli­che Konzer­te und Sonnen­un­ter­gän­ge auf der ibis MUSIC Terras­se mitein­an­der verban­den. Der Parc Vernex war ästhe­ti­scher und einla­den­der als je zuvor und bot auf der Super Bock Stage großar­ti­ge Auftrit­te aufstre­ben­der Künst­ler. Das Liszto­ma­nia, das mittler­wei­le beim Publi­kum für sein trend­ori­en­tier­tes Programm bekannt ist, war jeden Abend bis auf den letzten Platz gefüllt. Und die Paral­lel Experi­en­ces boten einigen Glück­li­chen eine zauber­haf­te Auszeit in der atembe­rau­ben­den Kulis­se des Caux Palace.

DIE GESCHICHTE DES FESTIVALS WIRD WEITERGESCHRIEBEN

Um ihren Auftritt beim Montreux Jazz Festi­val zu markie­ren, boten einige Künst­ler dem Publi­kum echte Sonder­mo­men­te, die sich manch­mal völlig vom Rest ihrer Tournee abhoben. Im Montreux Jazz Lab überrasch­te der briti­sche Hip-Hop-Megastar Storm­zy alle mit einer Gospel-Rap-Predigt der Extra­klas­se, die er maßge­schnei­dert hatte, “weil es das Montreux Jazz Festi­val ist”. Der Rapper, der von einem sechs­stim­mi­gen Chor und Bläsern beglei­tet wurde, verwan­del­te sich für einen Abend in einen Crooner und spiel­te Lieder, die er noch nie zuvor auf der Bühne gesun­gen hatte. Ein Beweis dafür, dass die Magie des Festi­vals immer noch auf die junge Genera­ti­on wirkt. 

Bei der Zugabe von The Smile spiel­te Thom Yorke ein brand­neu­es, sechs­mi­nü­ti­ges Stück, das er am selben Tag auf dem Festi­val kompo­niert hatte, eine Neuig­keit, die in der englisch­spra­chi­gen Fachpres­se die Runde machte. Das Lied mit dem Namen “Bending Hectic” steht in einer langen Tradi­ti­on von Musik­wer­ken, die in Montreux entstan­den sind, von “Smoke on the Water” über “Under Pressu­re” bis hin zu “Lavaux” von Prince. 

Im Audito­ri­um Stravin­ski feier­te Diana Ross in Montreux den aller­letz­ten Termin ihrer Karrie­re in Europa. Nach einer einein­halb­stün­di­gen Show gab es ein rühren­des Finale, bei dem sie ihre ganze Familie zu sich auf die Bühne holte. Das Publi­kum erleb­te eine Diva, die mensch­li­cher und verletz­li­cher war als je zuvor. Bei Nick Cave & The Bad Seeds’ Dantes-Konzert herrsch­te nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter den Kulis­sen große Aufre­gung: Eine Block­bus­ter-Produk­ti­on mit 17 Kameras hielt ihren Auftritt aus allen Blick­win­keln fest. Nur wenige Wochen vor seinem Auftritt hatte der Austra­li­er der audio­vi­su­el­len Produk­ti­on des Festi­vals die Erlaub­nis erteilt, sein Konzert für eine kommer­zi­el­le Veröf­fent­li­chung zu filmen — die einzi­ge derar­ti­ge Veröf­fent­li­chung während seiner gesam­ten Tournee. 

Abseits der Bühnen konnten die Festi­val­be­su­cher auch den einzig­ar­ti­gen Geist des Musiker­dorfs erleben, für den das Festi­val seit über 50 Jahren bekannt ist. Man sah Künst­ler im See tauchen, am Ufer entlang spazie­ren, die Terras­sen genie­ßen oder sich sogar ein Poster der diesjäh­ri­gen Ausga­be in den Festi­val­bou­ti­quen kaufen. Einige Künst­ler haben ihren Aufent­halt aus Liebe zu den Orten sogar verlängert. 

BILANZ DER AUSGABE: 17 AUSVERKAUFTE KONZERTE

Das Festi­val hat am Freitag sein Ticket­bud­get erreicht. Mit 17 ausver­kauf­ten Konzer­ten und einer Auslas­tung von fast 85% verzeich­net die Veran­stal­tung eine der besten Besucher­zah­len der letzten zehn Jahre in den bezahl­ten Sälen. Die Organi­sa­ti­on des Festi­vals schätzt die Zahl der Zuschau­er auf 250.000, was dem oberen Durch­schnitt in Bezug auf die Besucher­zah­len entspricht. Begüns­tigt durch ein traum­haf­tes Wetter und eine ausge­wo­ge­ne Neuge­stal­tung des Festi­val­for­mats (kürze­re Nacht­zei­ten unter der Woche, Aufwer­tung der kosten­lo­sen Veran­stal­tungs­or­te), entwi­ckel­te sich der Verkauf von Geträn­ken und Speisen weit über den Erwartungen. 

Von außen betrach­tet wirkte die Ausga­be nach dem Covid wie eine Rückkehr zur Norma­li­tät. Hinter den Kulis­sen mussten sich die Festi­val-Teams jedoch unzäh­li­gen Heraus­for­de­run­gen in Bezug auf Ressour­cen, Liefe­run­gen und Logis­tik stellen. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Flug gestri­chen wurde — manch­mal sogar für große Headli­ner, für die in letzter Minute Lösun­gen gefun­den werden mussten. Trotz all dieser Einschrän­kun­gen war es dank des Fachwis­sens und der harten Arbeit aller Festi­val­teams möglich, dem Publi­kum eine nahezu vollstän­di­ge Parti­tur zu liefern. Von den über 450 kosten­lo­sen Veran­stal­tun­gen und 70 kosten­pflich­ti­gen Konzer­ten musste nur eine Handvoll Künst­ler absagen. 

Bilder der Konzer­te von Jamie Cullum, Herbie Hancock und Van Morri­son — alle Bilder © Oliver Hofmann