BERLIN (dpa) — 1965 spiel­ten sie zum ersten Mal ein (legen­dä­res) Konzert in der Berli­ner Waldbüh­ne, jetzt waren die Rolling Stones wieder da. Was hat sich in 57 Jahren Popmu­sik­ge­schich­te verändert?

Schon erstaun­lich, dass man einst mit ein paar bluesi­gen Gitar­ren­riffs als Verkör­pe­rung des Bösen gelten konnte.

Als die Rolling Stones 1965 ein inzwi­schen legen­dä­res Konzert in der Berli­ner Waldbüh­ne gaben, das damit endete, dass Fans Bänke zertrüm­mer­ten, Later­nen umstürz­ten und S‑Bahnen demolier­ten, war der Ruf als «härtes­te Band der Welt» perfekt. Dutzen­de Menschen wurden verletzt und festge­nom­men, der Schaden ging in die Hundert­tau­sen­de. Die Waldbüh­ne war jahre­lang nicht benutzbar.

57 Jahre später kommen die Stones wieder auf die Bühne im Berli­ner Westen (nach zwei weite­ren Konzer­ten 1982 und 2014). Wie die Verkör­pe­rung irgend­ei­ner bösen Kraft wirken sie inzwi­schen nicht mehr. Doch frene­tisch gefei­ert werden sie immer noch. Das Konzert in der Waldbüh­ne ist der Abschluss ihrer Europa­tour­nee zum 60-jähri­gen Bestehen. Und eine Lehre darin, was die bekann­tes­te Rockband der Welt bis heute ausmacht.

«Tach, Berli­ner» — Eine Lekti­on in gutem Entertainment
Möchte man eine Stärke Mick Jaggers hervor­he­ben, ist es seine Bühnen­prä­senz. Der 79-Jähri­ge wirkt nicht mehr so, als würde der Teufel persön­lich seinen Körper durch­schüt­teln. Aber er schrei­tet immer noch mit großer Vitali­tät auf der Bühne hin und her, zuckelt mit seinen ausge­streck­ten Armen, kreist die Hüften, trippelt mit den Füßen – und richtet sein Wort immer wieder ans Publi­kum. «Tach, Berli­ner», ruft er nach dem Opener «Street Fight­ing Man» auf Deutsch. «Wie geht es euch?»

BER-Witz von der Rocklegende

Später scherzt er über die lange Bauzeit des Berli­ner Flugha­fens BER und sagt: «Glad to see the airport is final­ly finis­hed» (dt. «Ich bin froh zu sehen, dass der Flugha­fen endlich fertig­ge­stellt wurde»). Man sei von dort mit dem 9‑Euro-Ticket losge­fah­ren, um eine Curry­wurst zu essen und den Pfeffer­minz­li­kör «Berli­ner Luft» zu trinken. «Nach fünf Schnäp­sen war mein Deutsch perfekt.»

«Es ist gut, zurück in Berlin zu sein», sagt auch Gitar­rist Keith Richards, «weil man nie weiß, was passiert.» Vermut­lich spielt er damit auf den alten Waldbüh­nen-Auftritt an. Was die Stones damals wohl noch nicht so beherrsch­ten (so sollen sie Erzäh­lun­gen zufol­ge nach einem 20-minüti­gen Set lustlos verschwun­den sein), haben sie inzwi­schen perfek­tio­niert. Enter­tain­ment, Outfit­wech­sel und andere Spekta­kel sowie ein je nach Konzert­ort indivi­du­el­les Inter­agie­ren mit den Fans – alles, was ein großes Popkon­zert bis heute zu einem unver­gleich­li­chen Ereig­nis macht.
Ein Sound, der bis heute einma­lig ist

Unver­gleich­lich ist natür­lich auch die Musik. Die Formel ist einfach: Keith Richards schlägt seine prägnan­ten Riffs an, Ron Wood verziert die Lieder mit Gitar­ren­me­lo­dien. Über allem schwebt Mick Jagger mit seinem markan­ten Gesang, inzwi­schen ein bisschen rauer und knurren­der, aber immer noch beein­dru­ckend volumi­nös. Die Stones präsen­tie­ren ihre tausend­fach gespiel­ten Lieder bis heute mit Hinga­be, die Songs wirken energisch, druck­voll. Bei dieser Tour waren es unter anderem: «You Can’t Always Get What You Want», «Paint It Black», «Tumbling Dice», «Out of Time» oder «Honky Tonk Woman».

Bloß der langjäh­ri­ge Schlag­zeu­ger Charlie Watts (1941–2021) ist nicht mehr dabei, am Anfang werden Video­se­quen­zen von ihm gezeigt. «Diese Show widmen wir Charlie», sagt Jagger auf Deutsch.

Das Publi­kum in der größten­teils mit Sitzplät­zen ausge­stat­te­ten Waldbüh­ne steht von der ersten Sekun­de an, jubelt, liegt sich in den Armen. Heute stecken in dieser Musik die Erinne­run­gen mehre­rer Genera­tio­nen. Die unver­gleich­li­che Menge an zeitlo­sen Hits, die die Stones in ihrer Geschich­te angesam­melt haben, begeis­tert — so wirkt es bei einem Blick ins Publi­kum — immer wieder aufs Neue junge Menschen.

Rockmu­sik, die unsterb­lich macht

Stich­wort jung: Die Stones waren 1965 die Rebel­len gegen das Estab­lish­ment, die böse Versi­on der Beatles. Damit konnten sich in den 1960er Jahren viele Menschen identi­fi­zie­ren. Heute ist das anders.

Eine jünge­re Musik­hö­re­rin aus dem Publi­kum sagt vor dem Konzert, sie sei auch hier, weil es an sich eine unglaub­li­che Leistung sei, wenn Männer weit über die 70 noch eine solche Show liefern könnten. Schaut man sich diese fröhli­chen, energe­ti­schen Zaube­rer auf der Bühne an, kann man dem nur zustimmen.

Und merkt: Auch heute rebel­lie­ren die Stones noch — aller­dings nicht mehr gegen die Gesell­schaft, sondern gegen die Zeit. Jagger und Co. wirken, als wären sie dem Reich der Sterb­li­chen entho­ben. Wie ansons­ten könnte man sich mit 79 so bewegen? Und das ist am Ende vielleicht der Traum, der 2022 auf die Rolling Stones proji­ziert wird: Dass Rockmu­sik unsterb­lich macht.

Von Lisa Forster, dpa