AMSTERDAM (dpa) — Wer verriet im August 1944 das Versteck des jüdischen Mädchens Anne Frank an die Nazis in Amster­dam? Fünf Jahre lang forsch­te ein Team und nannte einen Namen. Doch seitdem hagelt es Kritik.

Ein großer Stadt­plan hängt an der Wand, Fotos von Verdäch­ti­gen, über einem Stuhl liegt lässig eine blaue Jacke mit den gelben Buchsta­ben FBI.

So sieht die Kulis­se für fieber­haf­te Ermitt­lun­gen aus, wie man das aus TV-Thril­lern kennt. Und so zeigen Fotos das Büro des inter­na­tio­na­len Exper­ten-Teams in Amster­dam, das fünf Jahre lang einen der spekta­ku­lärs­ten Fälle der Geschich­te unter­sucht hatte: Wer verriet Anne Frank?

Die vom Team verbrei­te­ten Fotos des Büros sind symbo­lisch für alles, was schief ging bei der Unter­su­chung. Die Ergeb­nis­se der Ermitt­lun­gen wurden aufge­schrie­ben von der kanadi­schen Autorin Rosema­ry Sulli­van im Buch «Der Verrat von Anne Frank» und im Januar veröf­fent­licht. Der Verrä­ter sollte mit hoher Wahrschein­lich­keit ein jüdischer Notar sein, der sich selbst und seine Familie retten wollte. Die acht jüdischen Bewoh­ner des Amster­da­mer Hinter­hau­ses, darun­ter Anne Frank, wurden depor­tiert. Nur Annes Vater Otto überlebte.

Doch inzwi­schen blieb kaum noch etwas von der Sensa­ti­on. Namhaf­te Histo­ri­ker übten schar­fe Kritik und stell­ten gravie­ren­de Fehler fest. Manche sprachen von einem «Karten­haus an Bewei­sen». Der Amster­da­mer Profes­sor für Holocaust- und Genozid­stu­di­en, Johan­nes Houwink ten Cate, sagte: «Zu großen Beschul­di­gun­gen gehören große Bewei­se. Und die gibt es nicht.»

Der nieder­län­di­sche Verlag Ambo Anthos setzte eine Neuauf­la­ge aus und will erst Antwor­ten von dem Team. «Eine kriti­sche­re Haltung wäre möglich gewesen», räumte der Verlag ein. Die Kriti­sier­ten weisen die Vorwür­fe zurück und sagen, dass sie nie behaup­tet hätten, dass es Gewiss­heit gebe. Sie wollen sich zu einem späte­ren Zeitpunkt zu den Vorwür­fen äußern.

Wie konnte das alles geschehen?

Offen­sicht­lich musste bei diesem Projekt alles in das lukra­ti­ve Format des Cold Case passen — des ungeklär­ten, daher kalten Krimi­nal­fal­les. Ein kriti­scher Blick von außen aber, von Histo­ri­kern, passte nicht. Das Cold Case-Team selbst führt zwar eine eindrucks­vol­le Liste mit namhaf­ten Histo­ri­kern auf und bedankt sich bei diesen für die Mitar­beit. Nur: Viele von ihnen wissen von nichts, enthüll­te nun die Tages­zei­tung «Trouw».

Anne Frank (1929 — 1945), die von 1942 bis zum Verrat 1944 in dem Amster­da­mer Versteck vor den Nazis ihr heute weltbe­rühm­tes Tagebuch geschrie­ben hatte, ist eben nicht einfach ein Cold Case. Der Direk­tor der Anne Frank-Stiftung, Ronald Leopold, warnte: «Man muss sehr aufpas­sen, bevor man jeman­den in der Geschich­te als Verrä­ter von Anne Frank festschreibt, wenn man nicht zu 100 oder 200 Prozent sicher ist.»

Das Team von etwa 200 Exper­ten war eine Initia­ti­ve eines nieder­län­di­schen Filme­ma­chers und eines Journa­lis­ten. Gelei­tet wurde es von dem Ex-FBI-Mann Vince Panko­ke, der einst Kokain-Händler in Kolum­bi­en gejagt hatte. «Wir haben zwar keine Smoking Gun gefun­den», sagte der. «Unsere Theorie hat aber eine Wahrschein­lich­keit von mehr als 85 Prozent.»

Mit neues­ten techni­schen Mitteln, Daten­ana­ly­sen, künst­li­cher Intel­li­genz wurden Zehntau­sen­de von Dokumen­ten durch­sucht. Die Unter­su­cher fanden auch ein wichti­ges Beweis­stück. Die Abschrift eines anony­men Briefes, den Otto Frank nach dem Krieg bekom­men hatte, und in dem der Name des Notars genannt wurde.

Etwa 30 Theorien mit mögli­chen Verdäch­ti­gen wurden sehr detail­liert überprüft und als nicht sehr wahrschein­lich ad acta gelegt. Doch bei dem eigenen Verdacht waren die Unter­su­cher weniger sorgfältig.

Da ist der Brief: Der Verdacht gegen den Notar war bereits in den 1960er Jahren unter­sucht worden. Die Krimi­nal­po­li­zei hielt es für unwahr­schein­lich. Die Fragen von damals sind auch heute unbeant­wor­tet: Wer hat den anony­men Brief geschrie­ben? Und warum? Sollte da jemand aus Rache angeschwärzt werden?

Die Adres­sen-Listen: Der Notar war Mitglied des Jüdischen Rates, der nach Darstel­lung des Cold Case-Teams über Listen mit hunder­ten Adres­sen von unter­ge­tauch­ten Juden verfüg­te. Nur: Es gibt keine Bewei­se, dass der Jüdische Rat, der von den Deutschen zwangs­wei­se einge­setzt worden war, überhaupt solche Listen geführt hatte. So sagt Profes­sor Houwink ten Cate: «Davon hab ich in 35 Jahren Forschung noch nie etwas gesehen.» Sein Kolle­ge Bart van der Boom von der Univer­si­tät Leiden sprach sogar von «verleum­de­ri­schem Unsinn». Er ist Exper­te für die Geschich­te des Jüdischen Rates, war aber vom Cold Case Team nicht zu Rate gezogen worden.

Und der Notar: Er war zum Zeitpunkt des Verrats im August 1944 bereits mit seiner Familie unter­ge­taucht, das geht aus einer Disser­ta­ti­on hervor. Jeder Kontakt mit dem deutschen Sicher­heits­dienst hätte nur die Aufmerk­sam­keit auf ihn gelenkt. Ein Todes­ur­teil. Die Studie über den Notar aber hatte das Cold Case-Team gar nicht gelesen.

Die Fehler hätten vermie­den werden können, wenn man das Buch vorher Histo­ri­kern zum Gegen­le­sen vorge­legt hätte. Doch nur einige wenige ausge­wähl­te Medien hatten es vorab erhal­ten mit einer sehr stren­gen Geheim­hal­tungs­klau­sel. Sie hatten keine Chance, die Unter­su­chungs­er­geb­nis­se vorher Histo­ri­kern vorzulegen.

Wahrschein­lich mit Absicht, denkt der Amster­da­mer Histo­ri­ker David Barnouw, der selbst jahre­lang über Anne Frank und den Verrat geforscht hatte. «Offen­sicht­lich waren sie sich ihrer Sache nicht so sicher.» Und dann ist so eine Sensa­ti­on natür­lich auch sehr lukra­tiv. Das Buch sollte weltweit vermark­tet werden, ein Film ist geplant.

Von Annet­te Birschel,dpa