VAALIMAA (dpa) — Die Nato-Außen­gren­ze Richtung Russland wird sich nach dem Beitritt von Finnland mehr als verdop­peln. In der finni­schen Grenz­re­gi­on hat man sich längst auf eine neue Lebens­rea­li­tät eingestellt.

Die Gegend, in der die EU endet und Russland beginnt, ist eine endlos erschei­nen­de, von Schnee­mas­sen bedeck­te Waldland­schaft. Straßen­schil­der warnen vor Elchen, Holzhäus­chen stehen verein­zelt im Wald. Wo einst emsiger Grenz­ver­kehr und ‑handel herrsch­te, entsteht im Osten Finnlands eine neue Nato-Nordflan­ke: Ungarn hat der finni­schen Aufnah­me in das Vertei­di­gungs­bünd­nis am Montag zugestimmt, der türki­sche Präsi­dent Recep Tayyip Erdogan die zeitna­he Ratifi­zie­rung seines Landes angekün­digt — Finnlands Weg in die Nato scheint somit nicht mal ein Jahr nach Antrag­stel­lung frei.

Mit dem finni­schen Beitritt wird sich die Außen­gren­ze des westli­chen Vertei­di­gungs­bünd­nis­ses Richtung Russland mehr als verdop­peln: Zu den fast 1000 Grenz­ki­lo­me­tern in den Nato-Staaten Estland, Lettland, Litau­en und Polen sowie knapp 200 weite­ren im hohen Norden Norwe­gens kommen nun satte 1340 Kilome­ter hinzu. Für die grenz­na­hen Finnin­nen und Finnen hat Russlands Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne längst eine neue Lebens­rea­li­tät mit sich gebracht.

Der Grenz­über­gang

Finnland hat Ende Septem­ber 2022 die Grenze für russi­sche Touris­ten geschlos­sen. Das bedeu­tet nicht, dass der Grenz­ver­kehr gänzlich zum Erlie­gen gekom­men ist — wer zum Beispiel enge Famili­en­an­ge­hö­ri­ge in Finnland besuchen möchte oder eine Aufent­halts­er­laub­nis hat, der kann den Schlag­baum von Russland aus nach wie vor passieren.

Die Zahl der Grenz­über­trit­te in beide Richtun­gen ist dennoch immens gesun­ken, wie sich unter anderem am Grenz­über­gang Vaali­maa ganz im Südos­ten Finnlands zeigt: Am einst meist­fre­quen­tier­ten Grenz­über­gang zwischen der EU und Russland reisen werktags noch etwa 1500 bis 1600 Menschen ein oder aus, am Wochen­en­de sind es täglich etwa 2000 bis 2300, wie Markus Haapa­saa­ri vom Südost­fin­ni­schen Grenz­schutz sagt.

2019 — im letzten vergleich­ba­ren Jahr vor der Pande­mie — waren es in etwa dreimal so viele gewesen wie heute. Russen kamen zum Shoppen in Finnland vorbei, Finnen fuhren gerne für einen Tages­trip hinüber nach St. Peters­burg — mit dem Auto nur rund drei Stunden von der Grenze entfernt — oder für länge­re Reisen auch weiter bis nach Moskau. «Wegen der Touris­mus­be­schrän­kun­gen für russi­sche Staats­bür­ger sind die Zahlen nicht annähernd so hoch wie 2019», berich­tet Haapasaari.

Das Einkaufs­zen­trum

Dort, wo Russen einst in Vaali­maa zum Shoppen zu Gast waren, bedeckt nun eine dicke, unberühr­te Schnee­schicht den verlas­se­nen Parkplatz: Das Zsar Outlet Villa­ge hat kurz nach der Schlie­ßung der Grenze für russi­sche Touris­ten Insol­venz angemel­det. Die Pande­mie hatte den Betrei­bern finan­zi­ell zugesetzt, die Touris­mus­be­schrän­kun­gen dem Einkaufs­dorf offen­bar den Rest gegeben. Inter­es­sen­ten für die Gebäu­de werden gesucht — ob das gelingt, ist angesichts der Lage fraglich.

Nicht viel anders ist die Lage neben­an im zweiten Einkaufs­zen­trum: Das Scandi­na­vi­an Shopping Centre ist offen, die Restau­rants sind an einem Werktag Ende März aber ebenso leer wie die Gänge der Super­märk­te. Auf dem Parkplatz steht nur ein gutes Dutzend Autos mit russi­schen oder finni­schen Kennzei­chen. Geschäf­te suchen Nachmieter.

Das Grenz­land

In Lappe­en­ran­ta, einer der größten Städte der Region, gehen die Menschen ihrem ruhigen Alltag meist ohne größe­re Gedan­ken an den Nachbarn im Osten nach. Manche berich­ten davon, dass die anfäng­li­che Angst, nach dem russi­schen Einmarsch in die Ukrai­ne als nächs­tes an der Reihe zu sein, mit dem Fortschrei­ten des Kriegs kleiner gewor­den ist. Russlands offen­kun­di­ge militä­ri­sche Proble­me und der eigene laufen­de Prozess zum Nato-Beitritt geben Zuversicht.

Bald wird durch Teile dieser Region ein Grenz­zaun gezogen. In Pelko­la gut 40 Autoki­lo­me­ter östlich von Lappe­en­ran­ta wurde vor einem Monat mit den Bauar­bei­ten für einen etwa drei Kilome­ter langen Pilot­zaun begon­nen. Bis 2025 soll der Großteil der Absper­rung stehen — nicht auf der gesam­ten Grenz­län­ge, sondern an strate­gisch wichti­gen Punkten etwa in der Nähe der Grenz­über­gän­ge: Um die 70 Kilome­ter Zaun sollen errich­tet werden, der Großteil davon in Südostfinnland.

In der Grenz­re­gi­on ist man sich bewusst, dass ein solcher Zaun weder einen neuen Eiser­nen Vorhang darstel­len wird noch russi­sche Panzer stoppen würde. Darum geht es auch nicht. Der Zaun werde vor allem Grenz­pa­trouil­len zwischen den Übergän­gen zugute­kom­men, die die Gegend zu Fuß, per Quad, Ski oder Schnee­mo­bil überwach­ten, sagt Haapa­saa­ri. «Dieser Zaun wird uns beim Einset­zen unserer Ressour­cen helfen. Wir können nicht rund um die Uhr an der ganzen Grenze patrouillieren.»

Die Haupt­stadt

Helsin­ki ist eine sehr unauf­ge­reg­te Stadt, spürbar ruhiger als andere Haupt­städ­te, die Menschen reser­vier­ter. Trotz­dem bezie­hen sie klar Stellung zum Krieg: Von der finni­schen Staats­kanz­lei aus sieht man auf nahe gelege­nen Gebäu­den zum Beispiel gleich vier Ukrai­ne-Flaggen im kalten Frühjahrswind wehen. Nach St. Peters­burg fährt keiner mehr, auch die Zugver­bin­dung wurde längst einge­stellt — es war die letzte öffent­li­che Direkt­ver­bin­dung von Russland in die EU.

Vor der Staats­kanz­lei steht aber auch eine Statue des russi­schen Kaisers Alexan­der II., der als «Zar-Befrei­er» bei den Finnen einen guten Ruf genießt. Bei aller Russo­pho­bie, die es gelegent­lich gebe, schere man nicht alle Russen in Finnland über einen Kamm, sagt ein Wissen­schaft­ler der nahe gelege­nen Universität.

Zugleich zeugen Archi­tek­tur, manche Schil­der oder Speise­kar­ten davon, dass man in Helsin­ki Russland näher ist als etwa in Stock­holm oder Berlin. Was einen zu der schwie­ri­gen Frage bringt, ob es jemals wieder ein geschei­tes Nachbar­schafts­ver­hält­nis zwischen Finnen und Russen geben wird. Hat der Krieg zu viel zunich­te gemacht, vor allem Vertrau­en? Ist das Fenster Richtung Osten für immer verschlossen?

«Langfris­tig betrach­tet ist das eine sehr entschei­den­de Frage», sagt der Histo­ri­ker Henrik Meinan­der von der Univer­si­tät Helsin­ki. «Es wird viel Zeit brauchen, aber es ist notwen­dig, das Fenster eines Tages wieder zu öffnen.» Das Misstrau­en gegen­über Russland werde zwar noch sehr lange Zeit bestehen bleiben, ist sich der Exper­te für die wechsel­haf­te finnisch-russi­sche Geschich­te sicher. «Aber für Finnland wäre es wünschens­wert, wenn sich die Dinge wieder norma­li­sie­ren. Es ist nicht gesund, eine solche verschlos­se­ne Bezie­hung zu haben.» Wie lange all das dauern werde? Lange, sehr lange, sagt Meinan­der. «Ich denke, wir müssen darauf um die 20 Jahre warten — wenn es gut läuft.»

Von Steffen Trumpf, dpa