KAPSTADT/VALENCIA/ANTALYA (dpa) – Heute hier, morgen dort und immer der Sonne nach. Ein Dasein als digita­ler Nomade reizt viele, vor allem im grauen Winter. Immer mehr Menschen erfül­len sich diesen Traum, selbst wenn es nur «Worka­ti­on» ist.

Emails beant­wor­ten, während die Hänge­mat­te in der warmen Brise schwingt. Bei einer virtu­el­len Konfe­renz die Zehen in den Sand stecken. Arbei­ten aus Cafés, die Aussicht aus dem Fenster immer eine andere, mal Meer, mal Berge, mal pulsie­ren­de Großstadt. Chris­ti­na Leitner reist seit elf Jahren durch die Welt, haupt­säch­lich mit den Jahreszeiten.

Den europäi­schen Winter verbringt sie oft in Kapstadt, am Südzip­fel Afrikas. Zur Skisai­son fliegt sie für ein paar Wochen zurück in ihre Heimat, Tirol. Der Rest des Jahres wird frei geplant. Vergan­ge­nes Jahr waren es London, New York und Sambia. Für 2023 stehen Südko­rea, Thailand, Malay­sia, Georgi­en und Mexiko-Stadt an.

Die selbst­stän­di­ge Überset­ze­rin und Reise­jour­na­lis­tin arbei­tet mal in Co-Working Büros, mal in Restau­rants oder Airbn­bs. Ihre Klien­ten wissen eigent­lich nie, wo auf der Weltku­gel sie sich grade befin­de, sagt Leitner, aber das inter­es­sie­re auch keinen. Die nächs­te Desti­na­ti­on der 47-jähri­gen Öster­rei­che­rin bestimmt entwe­der der nächs­te Auftrag oder ein persön­li­ches Inter­es­se. «Ich wähle Länder, die nicht auf jeder­manns Liste stehen, wo es noch ein bisschen abenteu­er­lich ist und wo ich einen Mehrwert habe, entwe­der sprach­lich oder kultu­rell», sagt sie. In Mexiko-Stadt belege sie Spanisch-Kurse; nach Südost­asi­en ziehe sie das Streetfood.

Trend­set­ter statt Aussteiger

Die Corona-Pande­mie hat das digita­le Nomaden­tum von einer Rander­schei­nung zum Trend gemacht. Immer mehr Länder bieten Visa an, die zeitlich begrenz­te Fernar­beit ermög­li­chen. Jüngst haben Namibia, Ecuador, Belize, Malay­sia, Albani­en Visa-Erleich­te­run­gen für digita­le Nomaden einführt. Auch Länder in Europa, wie Malta, Kroati­en, Tsche­chi­en, Estland, Griechen­land und Ungarn sind mit dabei.

Die Beweg­grün­de sind vielfäl­tig. Länder wollen Corona-beding­ten Verlus­ten im Touris­mus entge­gen­wir­ken; hybri­des Arbei­ten hat durch positi­ve Erfah­run­gen während der Pande­mie an Akzep­tanz gewon­nen. Manche Länder wollen Fachkräf­te­man­gel und einer überal­ter­ten Gesell­schaft entge­gen­wir­ken. Digita­le Nomaden gelten längst nicht mehr als Ausstei­ger­ty­pen, sondern eher als Vorrei­ter eines neuen Lebensstils.

Kapstadt gilt mit seinem europäi­schen Flair und mediter­ra­nen Wetter als «Digita­le-Nomaden-Haupt­stadt» Afrikas. Gute Infra­struk­tur, schnel­les Inter­net sowie Strän­de, Berge und eine preis­güns­ti­ge aber hochwer­ti­ge Wein- und Esskul­tur sind weite­re Anzie­hungs­punk­te. Auch Nairo­bi, die Haupt­stadt des Safari­lands Kenia, ist bei digita­len Nomaden auf dem Konti­nent beliebt.

Inter­na­tio­na­les Gemeinschaftsgefühl

Heraus­zu­fin­den, wo es sich am besten lebt und arbei­tet ist mittler­wei­le einfach. Auf zahlrei­chen Inter­net-Fora tauschen digita­le Nomaden freizü­gig Tipps und Erfah­run­gen aus. Man versteht sich als inter­na­tio­na­le Gemein­schaft. Die Firma Resume.io, die sich auf die Erstel­lung von Lebens­läu­fen, beson­ders für Freischaf­fen­de, spezia­li­siert, hat knapp 90 000 Posts auf Insta­gram mit dem Hashtag #digital­no­mad analy­siert. Mehr als 57 000 kamen aus Vancou­ver in Kanada. Grund dafür sei vor allem die Nachbar­schaft­lich­keit der Einwoh­ner, so der Bericht.

Inner­halb Europas ist demnach London Top-Desti­na­ti­on mit rund 47 000 Posts – weil man dort englisch spricht und die Kultur- und Unter­hal­tungs­sze­ne boomt. Wer am Strand arbei­ten will, wählt laut der Analy­se häufig die arabi­sche Wirtschafts­me­tro­po­le Dubai oder Südostasien.

Beson­ders die indone­si­sche Insel Bali mit ihrem relax­ten Lifestyle und günsti­gen Traum-Unter­künf­ten steht bei vielen oben auf der Wunsch­lis­te. Um mehr Auslän­der für länge­re Aufent­hal­te anzulo­cken, disku­tie­ren die Behör­den, Inter­es­sen­ten ein «digital nomad visa» anzubie­ten. Seit Septem­ber gibt es die Möglich­keit, mittels des «B211A visa» sechs Monate steuer­frei auf Bali zu arbeiten.

In Latein­ame­ri­ka will sich die argen­ti­ni­sche Haupt­stadt Buenos Aires bis 2023 rund 22 000 digita­le Nomaden anlocken. Daher bietet Argen­ti­ni­en seit Mai ein spezi­el­les «Nomaden-Visum» für sechs Monate an, das einmal verlän­gert werden kann. «Eine Stadt entwi­ckelt sich besser, wenn sie mit der Welt verbun­den ist», sagt Bürger­meis­ter Horacio Rodrí­guez Larreta.

Südeu­ro­pa als belieb­tes Ziel

Es muss nicht immer die weite Ferne sein. Gerade für digita­le Neulin­ge ist eine kürze­re «Worka­ti­on» attrak­tiv, ein Mix aus Work (Arbeit) und Vacati­on (Urlaub). Man verlegt den Arbeits­platz buchstäb­lich für ein paar Wochen an einen Urlaubs­ort, mit dem Verständ­nis des Arbeit­ge­bers, dass es im Arbeits­ver­hält­nis in erster Linie um Produk­ti­vi­tät geht, nicht um das Absit­zen von Bürostunden.

In Valen­cia, im sonni­gen Osten Spani­ens, arbei­tet der 25-Jähri­ge Moritz aus Ravens­burg für einen US-ameri­ka­ni­schen PC- und Drucker­her­stel­ler. Er hat sich beim Co-Living-Unter­neh­men Cotown einge­mie­tet, wo nach Angaben der Geschäfts­füh­re­rin Vanesa Esteban Menschen aus 30 verschie­de­nen Ländern leben und arbei­ten. Co-Living und ‑Working ist ein neues Konzept, das Großteils aus dem digita­len Nomaden­tum entstan­den ist und vor allem in Städten mit hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten rasant Fuß fasst.

Selbst nach drei Jahren in Valen­cia fühle er sich wie auf Dauer­ur­laub, erzählt Moritz, der mittler­wei­le fließend Spanisch und Englisch spricht. Sein Antrieb für ein Leben als digita­ler Nomade seien Fernweh, Rastlo­sig­keit, Sinnsu­che, beruf­li­che Freiheit und Work-Life-Balan­ce gewesen, der Drang, immer wieder neue Menschen kennen­zu­ler­nen und neue Erfah­run­gen zu machen.

In Spani­en stimmt das Parla­ment gerade über ein neues Gesetz ab, das ein spezi­el­les Visum für digita­le Nomaden mit einer Dauer von bis zu fünf Jahren vorsieht. In Portu­gal gibt es seit dem 30. Oktober ein neues Visum, mit dem Auslän­der bis zu ein Jahr in Portu­gal arbei­ten können. Auch Itali­en will ein Gesetz anpas­sen, um quali­fi­zier­ten Arbeits­kräf­ten das Leben als digita­le Nomaden zu ermög­li­chen und damit gut ausge­bil­de­te Fachkräf­te anzulo­cken. Die Hoffnung ist, dass diese Menschen irgend­wann auch für italie­ni­sche Firmen arbei­te­ten oder verwais­te Dörfer wiederbeleben.

Alles passt in einen Koffer

Den Öster­rei­cher Sami Demirel hat es in die Türkei verschla­gen. Vor einem Jahr hat der 30-Jähri­ge Freelan­cer sein Leben in Berlin aufge­ge­ben und sich für den Winter in einer Hütte in den Bergen von Antalya am Mittel­meer einge­mie­tet. Zuvor war er in Aserbai­dschan, als nächs­tes steht Georgi­en auf dem Programm. Demirel arbei­tet im Online-Marke­ting, seine Auftrag­ge­ber sitzen in Deutsch­land. In der Türkei bekom­me er mehr für sein Geld, sagt Demirel. Was er in Antalya für eine ganze Wohnung zahlt, würde in Berlin ein Zimmer in einer Wohnge­mein­schaft kosten. «Statt einen Döner auf die Hand kann ich hier in ein nettes Restau­rant gehen.» Er genießt die «Freiheit und Unabhän­gig­keit» als Digital­no­ma­de, nur die Einsam­keit nage ein bisschen an ihm.

Ein Leben an einem festen Ort könne sie sich nicht mehr vorstel­len, sagt Leitner: «Ich will den inter­na­tio­na­len Aspekt nicht mehr missen.» Dafür ist sie bereit, Komforts aufzu­ge­ben, wie eine Alltags­rou­ti­ne oder eigene Möbel. «Eigent­lich passt mein ganzes Leben in einen Koffer. Man braucht nicht mehr. Alles andere ist überflüs­si­ger Ballast.»

Von Kristin Palitza, Emilio Rappold und Anne Pollmann, dpa