NEU DELHI (dpa) — Noch Anfang 2021 sah es gut aus in Indien. Aber jetzt kämpft das Riesen­land mit einer großen zweiten Corona-Welle. Die Seuche verbrei­tet sich immer schnel­ler und den Kranken­häu­sern geht der Sauer­stoff aus.

Mehr als eine Milli­on regis­trier­te Corona-Neuin­fek­tio­nen in nur vier Tagen. Zweimal in Folge ein Höchst­wert bei den Tages-Infek­ti­ons­wer­ten. Ein schlim­mer Rekord reiht sich in Indien an den nächs­ten. Dahin­ter liegen viele Schicksale.

Menschen eilen von Kranken­haus zu Kranken­haus mit schwer­kran­ken Angehö­ri­gen und werden immer wieder abgewie­sen. Es gibt keine Betten, keinen medizi­ni­schen Sauer­stoff mehr. Auch auf Twitter suchen Menschen wie John Abhijeet aus Delhi verzwei­felt Hilfe. Er und seine ganze Familie sind Corona-positiv, seiner Mutter geht es beson­ders schlecht. Nach langer Suche fand er ein Klinik­bett, aber keinen Sauerstoff.

«Der Zustand meiner Mutter hat sich schnell verschlech­tert und ich muss etwa 80 Anrufe gemacht haben», sagte Abhijeet. Jetzt liegt sie endlich in einem Bett mit Sauer­stoff­ver­sor­gung. Aber er hat Angst. Twitter ist inzwi­schen auch ein Meer aus Nachru­fen auf unzäh­li­ge gelieb­te Menschen. Alt wie jung.

Wurden Anfang des Jahres in dem Riesen­land mit mehr als 1,3 Milli­ar­den Einwoh­nern teils weniger als 10.000 Fälle am Tag bekannt, sind es heute mehr als 300.000. Wie konnte es soweit kommen?

Zu Jahres­be­ginn herrsch­te noch Eupho­rie im Land. Viele dachten, dass das Schlimms­te nach einer ersten Welle im vergan­ge­nen Sommer mit bis zu knapp 100.000 Fällen am Tag überstan­den sei. Das norma­le Leben kehrte zurück. Mehr und mehr Leute verzich­te­ten auf das Masken­tra­gen und Abstand­hal­ten. Dann gab es religiö­se Feste — darun­ter eines, bei dem wochen­lang Millio­nen Hindus im heili­gen Fluss Ganges badeten, um einem Zustand der Befrei­ung näher­zu­kom­men, bei dem der endlo­se Zyklus von Geburt, Tod und Wieder­ge­burt endet und alles Leiden aufhört. Dazu kamen Wahlkampf­ver­an­stal­tun­gen mit großen Menschenmengen.

Auch Virus­mu­ta­tio­nen dürften eine Rolle spielen. Die indische Varian­te B.1.617 steht bei der Weltge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on (WHO) unter Beobach­tung. Auch in Deutsch­land wurden bereits einige Infek­tio­nen mit dieser Varian­te regis­triert. Für eine Einstu­fung als «besorg­nis­er­re­gend» fehlt zwar laut Robert Koch-Insti­tut (RKI) bislang noch die klare Evidenz. Die Varian­te trage aber zwei Mutatio­nen an einem Oberflä­chen­pro­te­in, die von anderen unter Beobach­tung stehen­den Linien bekannt seien und von denen Wissen­schaft­ler befürch­ten, dass Geimpf­te und Genese­ne mögli­cher­wei­se vor einer Anste­ckung weniger gut geschützt sein könnten.

Zudem haben in Indien erst knapp zehn Prozent der Bevöl­ke­rung mindes­tens eine Impfdo­se erhal­ten — und das, obwohl das Land selbst Impfstoff in Massen produ­ziert. Aber bis vor kurzem hatte die größte Demokra­tie der Welt nach eigenen Angaben insge­samt mehr als 66 Millio­nen Dosen in 95 überwie­gend arme Länder expor­tiert, teils gar verschenkt. Indien hatte sich als Apothe­ke der Welt präsentiert.

Nun sind die Kranken­häu­ser voll — und die Krema­to­ri­en ebenso. Das Gesund­heits­sys­tem wurde hart von der Heftig­keit der zweiten indischen Corona-Welle getrof­fen. Angesichts der neuen Infek­ti­ons­wel­le stuft die deutsche Bundes­re­gie­rung Indien ab diesen Sonntag als Hochin­zi­denz­ge­biet ein. Damit ist keine Verschär­fung der Einrei­se­be­stim­mun­gen verbun­den. Einrei­sen­de aus Indien müssen wie bisher für zehn Tage in Quaran­tä­ne, von der sie sich nach fünf Tagen durch einen negati­ven Corona-Test befrei­en können.

In Indien kursie­ren Berich­te von einem Schwarz­markt für Sauer­stoff und Virus­hem­mer. John Abhijeet versuch­te 100 Milli­gramm Remde­si­vir zu kaufen — er erhielt Angebo­te für umgerech­net 330 Euro, das Sechs­fa­che des offizi­el­len Preises. Der Sauer­stoff­händ­ler Anjan Prasad Majum­dar in Kolka­ta sagt, er erhal­te 250 bis 300 Anrufe pro Tag, könne der Nachfra­ge aber nicht nachkom­men. Ein Behäl­ter für 115 Atemzü­ge koste bei ihm 7 bis 11 Euro. Seine Kunden hätten erzählt, dass sie schon Angebo­te erhal­ten hätten, die um ein Vielfa­ches höher gewesen seien.

Auf die Stimmung schla­gen auch Unfäl­le. Diese Woche starben mehr als 20 beatme­te Corona-Erkrank­te infol­ge eines undich­ten Sauer­stoff­tanks in einem Kranken­haus in der Stadt Nashik. Mindes­tens 13 weite­re starben bei einem Brand auf einer Inten­siv­sta­ti­on in Virar.

Wie geht es weiter? Auf breite Lockdowns will Minis­ter­prä­si­dent Naren­dra Modi möglichst verzich­ten. Denn vor einem Jahr hatte ein harter landes­wei­ter Lockdown zur Massen­wan­de­rung von Millio­nen Wander­ar­bei­tern aus den großen Städten in die Dörfer geführt, weil sie Angst hatten zu verhun­gern. Sie trugen damit auch das Virus in die Provinz. Doch immer­hin scheint das Land beim Impfen Tempo machen zu wollen. Indien möchte Impfstof­fe schnel­ler zulas­sen, die von Arznei­mit­tel­be­hör­den einiger reiche­rer Länder und der EU schon zugelas­sen worden sind. Und die «Apothe­ke der Welt» will etwas fast Undenk­ba­res tun: Impfstof­fe importieren.

Von Anne-Sophie Galli, dpa