ISTANBUL/DAMASKUS (dpa) — Geister­städ­te, bereit zum Abriss. Hundert­tau­sen­de Obdach­lo­se. An eine auch nur ansatz­wei­se Rückkehr zur Norma­li­tät ist in der Grenz­re­gi­on der Türkei und Syriens Wochen nach den Beben nicht zu denken.

Für Fager ist es gewis­ser­ma­ßen eine Entschei­dung zwischen zwei Katastro­phen: dem Elend in Syrien und dem in der Türkei. Der Syrer steht mit seiner Nichte am Grenz­über­gang Bab al-Hawa, und auf beiden Seiten der hohen Tore wartet Verwüs­tung — Trümmer von Häusern, zertrüm­mer­te Leben. Sechs­mal flüch­te­te er vor Syriens Bürger­krieg, zuletzt ins türki­sche Adana, wo er erstmals seit Jahren wieder in einem richti­gen Haus lebte. Aber jetzt, wo die Erdbe­ben ihn und seine Familie erneut in ein Zelt gezwun­gen haben, denkt er über Flucht Nummer sieben nach.

Knapp ein Monat ist vergan­gen, seit die Menschen in dieser Region in einem Alptraum erwach­ten. Um 4.17 Uhr des 6. Febru­ar brach­te ein Erdbe­ben Häuser zum Einstür­zen, die Zehntau­sen­de unter sich begru­ben. Mehr als 50.000 Menschen wurden bislang tot gemel­det. Auf das erste Beben der Stärke 7,7 in der Südost­tür­kei folgte am Nachmit­tag dessel­ben Tages eines der Stärke 7,6 — und etliche Nachbeben.

«Jahrhun­dert­ka­ta­stro­phe» nennt der türki­sche Präsi­dent Recep Tayyip Erdogan die Erdbe­ben — sie werden die Türkei noch für Monate, wenn nicht sogar Jahre beschäf­ti­gen. Mit dem Nordwes­ten Syriens haben sie zugleich eine Region getrof­fen, die schon vorher unter einer humani­tä­ren Krise von gewal­ti­gem Ausmaß ächzte.

Geister­städ­te und massen­haft Obdachlose

Das Ausmaß der Beben ist auch einen Monat danach kaum zu fassen. Nach UN-Angaben sind rund 29 Millio­nen Menschen in beiden Ländern betrof­fen. Das beson­ders schwer getrof­fe­ne Antak­ya gleicht einer Geister­stadt. Bagger räumen Schutt zusam­men. Ganze Stadt­vier­tel in der Region sind bereit zum Abriss. Einige Menschen wagen sich zurück in einsturz­ge­fähr­de­te Gebäu­de, um ein paar Möbel oder anderen Besitz zu retten.

Fast zwei Millio­nen Menschen sind in der Türkei obdach­los, etwa genau so viele haben die Region inzwi­schen verlas­sen. Zurück­ge­blie­ben sind die, die nicht gehen können oder wollen. Sie leben unter widri­gen Bedin­gun­gen vor allem in Zelten. Anwoh­ner im Bezirk Saman­dag sagten der dpa, der Strom falle oft aus und sie hätten keine Möglich­keit, ihre Wäsche zu reini­gen. Es fehle an Trink­was­ser und Toilet­ten, es mange­le an Hygie­ne. Per Durch­sa­ge werde davor gewarnt, das Leitungs­was­ser zu trinken. Krätze und Verlau­sung nehmen zu, wie Adanas Ärzte­kam­mer-Chef Selahat­tin Mentes sagte.

In Nordwest­sy­ri­en lebten schon vor den Beben etwa 1,8 Millio­nen Vertrie­be­ne in Zelten, Schutz­bau­ten und einfa­chen Häusern — 1400 offizi­el­le und inoffi­zi­el­le Camps sind es inzwi­schen. Plätze sind dort nicht leicht zu bekom­men. Und so suchen seit den Beben Tausen­de weite­re Famili­en auch anders­wo Unter­schlupf, einige in zerstör­ten Häusern, andere übernach­ten bei eisigen Tempe­ra­tu­ren im Freien.

Auf türki­scher Seite entdeckt man überall blaue und weiße Zelte in der Grenz­re­gi­on. Sie stehen in Parks und Vorgär­ten, auf Höfen und Spiel­plät­zen, am Straßen­rand, selbst in ländli­chen Gegen­den zwischen Oliven­baum­plan­ta­gen. Ein Mann, der mit seiner Frau und sechs Kindern in einem Zelt der Katastro­phen­schutz­be­hör­de AFAD unter­ge­kom­men ist, kann kaum beschrei­ben, wie die nächs­ten Wochen und Monate werden sollen. «Die Zukunft», sagt er, «ist vorbei».

Vermiss­te Opfer, Waisen­kin­der und gesund­heit­li­cher Notstand

Hinzu kommt die Sorge um vermiss­te Angehö­ri­ge: Viele suchen mit Anzei­gen an Häuser­wän­den oder Bildern in Whats­app-Gruppen bis heute nach ihren Liebs­ten. Auch auf Twitter teilen Nutzer Fotos und letzte Stand­ort­an­ga­ben. Mehr als 44 000 Menschen wurden allei­ne in der Türkei durch das Beben getötet, über die Zahl Vermiss­ten macht die Regie­rung aber bislang keine Angaben. In Syrien sorgen sich Helfer auch um unbeglei­te­te Kinder. Viele von ihnen sind Vertrie­be­ne, die ohnehin nur schwa­che sozia­le Bindung haben.

«Unser Leben ist wie ein Film gewor­den. Wie ein Film, bei dem man das Ende nicht kennt», sagt ein syrischer Junge, vielleicht zwölf Jahre alt, der versucht, über Bab al-Hawa zurück nach Syrien zu kommen. Ghaith, ein anderer, sitzt vor einem Häuschen zur Sicher­heits­kon­trol­le. Seine aus dem Ort Salkin stammen­de Familie, die nun auch in Zelten lebt, muss ihn hier abholen, allein über die Grenze darf er nicht. Ghaith wischt sich Tränen aus den Augen.

In Syrien ringen Ärzte weiter um das Leben von Verletz­ten. «Die medizi­ni­sche Lage ist nicht zu beschrei­ben», sagt Arzt Ammar Zakaria von der Organi­sa­ti­on SAMS. Niemand traue sich, die Toten-Dunkel­zif­fer im Nordwes­ten Syriens — bestä­tigt sind rund 5900 — zu schät­zen. Viele Trümmer seien mangels schwe­rer Geräte seit den Beben gar nicht bewegt worden. «Es sind sehr, sehr, sehr viele Opfer», sagt Zakaria.

Schutt­ber­ge, Asbest und zerstör­te Kulturgüter

Neben mensch­li­chem Leid haben die Beben auch viel wirtschaft­li­chen, ökolo­gi­schen und kultu­rel­len Schaden angerich­tet. Mehr als 200 000 Häuser wurden nach Regie­rungs­an­ga­ben allein in der Türkei zerstört — gewal­ti­ge Schutt­ber­ge, die entsorgt werden müssen. Green­peace in der Türkei warnt vor Verseu­chung mit Asbest oder anderen Chemi­ka­li­en. Verläss­li­che Daten liegen dazu nicht vor. Aber dort, wo die schwe­ren Maschi­nen in der Türkei nun die Gebäu­de abtra­gen, hängt ein weißer, beißen­der Dunst in der Luft.

Auch Kultur­gü­ter haben schwe­re Schäden genom­men oder sind zerstört, vor allem in der Stadt Antak­ya, dem antiken Antio­chi­en: Nach einem ersten Bericht der Ingenieurs- und Archi­tek­ten­kam­mer gehören dazu die ortho­do­xe Sankt Paulus Kirche und die Habib‑i Neccar Moschee — einer der ältes­ten Moscheen in den heuti­gen Grenzen der Türkei. Auch die Gemäu­er einer histo­ri­schen Burg in Gaziantep, gebaut von den Römern im 2. Jahrhun­dert nach Chris­tus, sind eingestürzt.

Der Sachscha­den den das Erdbe­ben verur­sacht hat, liegt nach einer Schät­zung der Weltbank allein in der Türkei bei mindes­tens 34,2 Milli­ar­den US-Dollar (rund 32,4 Milli­ar­den Euro). Der türki­sche Unter­neh­mens- und Geschäfts­ver­bands Türkon­fed schätz­te den finan­zi­el­len Schaden in einem Bericht kurz nach dem Beben auf 84,1 Milli­ar­den Dollar (rund 79 Milli­ar­den Euro).

Rücktritts­ru­fe und zu späte Hilfen

Nach dem Schock wird in der Türkei nun immer deutli­cher Kritik an der Regie­rung laut, auch mit Rücktritts­for­de­run­gen. Viele kriti­sie­ren an Erdogans Krisen­ma­nage­ment, dass zu wenige Rettungs­teams zu spät vor Ort waren etwa oder Versor­gung zu spät angekom­men sei. Hinzu kommt der Vorwurf, dass die Regie­rung Pfusch am Bau nicht geahn­det habe. Erdogan räumte Verzö­ge­run­gen ein, recht­fer­tig­te diese aber mit der Größe der Katastro­phen­re­gi­on und der Schwe­re der Beben.

Nach Nordwest­sy­ri­en rollten inzwi­schen zwar etwa 500 Lastwa­gen mit Hilfs­gü­tern, aber auch hier gestand UN-Nothil­fe­ko­or­di­na­tor Martin Griffiths ein, dass die Verein­ten Natio­nen mit Hilfe zu spät zur Stelle waren. Hilfen für Syrien seien schon vor den Beben drama­tisch unter­fi­nan­ziert, sagt Clynton Beukes von der Organi­sa­ti­on World Vision. «Als das Beben uns traf, hatten wir nichts», sagt er. Helfer standen vor der Frage, ob sie das Gehalt eines Arztes im Kranken­haus bezah­len oder Hilfs­gü­ter an der Grenze für Syrien statio­nie­ren wollten — beides zusam­men ging nicht.

Erdogan im Wahlkampf, etwas Norma­li­sie­rung für Assad

Die Katastro­phe traf die Türkei mitten im Wahlkampf. Erdogan macht deutlich, dass er an einem vorge­zo­ge­nen Wahlter­min am 14. Mai festhal­ten will. Die Regie­rung treibt nun den Wieder­auf­bau der Region voran — inner­halb eines Jahres sollen in der Region neue Häuser stehen. Ein Verspre­chen, mit dem Erdogan hofft, trotz aller Kritik auch nach 20 Jahren an der Macht wieder­ge­wählt zu werden.

Syriens Macht­ha­ber Baschar al-Assad, der sich im Bürger­krieg mit aller Gewalt an der Macht hält, will auch politi­schen Nutzen aus der Katastro­phe ziehen. Nach seiner langen politi­schen Isola­ti­on will er zeigen, dass seine Regie­rung — trotz der Zersplit­te­rung des Landes — faktisch die beherr­schen­de Kraft ist. In Syrien könnte Assad als einzi­ger Gewin­ner aus dieser Katastro­phe hervorgehen.

Von Johan­nes Sadek und Mirjam Schmitt, dpa