BRÜSSEL (dpa) — Die von Russland angegrif­fe­ne Ukrai­ne will unbedingt die Aussicht auf einen EU-Beitritt. Eine erste Hürde auf dem Weg ist nun genom­men. Es warten aller­dings noch zahlrei­che weitere.

Die Ukrai­ne und ihr Nachbar­land Moldau haben auf dem Weg zur angestreb­ten EU-Mitglied­schaft eine erste wichti­ge Hürde genommen.

Die EU-Kommis­si­on sprach sich dafür aus, die beiden Staaten offizi­ell zu Kandi­da­ten für den Beitritt zur Europäi­schen Union zu ernen­nen. Beitritts­ver­hand­lun­gen sollen nach der Empfeh­lung der Behör­de aller­dings erst begin­nen, wenn Reform­auf­la­gen umgesetzt wurden.

In beiden Ländern sieht die Kommis­si­on noch erheb­li­che Defizi­te — insbe­son­de­re im Justiz­we­sen, in der Wirtschafts­struk­tur und bei der Korrup­ti­ons­be­kämp­fung. Der Aufnah­me­pro­zess könnte sich deswe­gen noch Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehn­te hinzie­hen. Dies gilt vor allem für die Ukrai­ne, die seit dem 24. Febru­ar einen Großteil ihrer Kräfte für die militä­ri­sche Vertei­di­gung gegen einge­fal­le­ne Truppen aus Russland benötigt.

Denkbar ist zudem, dass einer oder mehre­re EU-Staaten bereits die Verga­be des Kandi­da­ten­sta­tus blockie­ren. Die Entschei­dung dafür muss einstim­mig fallen.

Selen­skyj: Die Ukrai­ne ist wertvoll für die EU

Ein Beitritt der Ukrai­ne wäre nach den Worten von Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj ein Gewinn für die Europäi­sche Union. “Unsere Annähe­rung an die Europäi­sche Union ist nicht nur für uns positiv”, sagt er in seiner Video­an­spra­che. “Das ist der größte Beitrag zur Zukunft Europas seit vielen Jahren.” Nur mit der Ukrai­ne werde die EU in Zukunft ihre Macht, Selbst­stän­dig­keit und Entwick­lung sichern können, sagt er.

“Wir sind einen Schritt vor dem Beginn einer vollwer­ti­gen Integra­ti­on in die Europäi­sche Union”, sagt Selen­skyj. Die Werte der Ukrai­ne seien europäi­sche Werte. “Die ukrai­ni­schen Insti­tu­tio­nen bleiben stabil auch unter den Umstän­den des Krieges.” Die Integra­ti­on werde sich positiv für die Bürger auswir­ken: “Je enger wir uns an andere europäi­sche Länder halten, desto mehr Möglich­kei­ten werden wir haben, allen Ukrai­nern ein moder­nes, gesicher­tes Leben zu gewährleisten.”

Scholz blickt zuver­sicht­lich auf EU-Entschei­dung zur Ukraine

Bundes­kanz­ler Olaf Scholz hat sich zuver­sicht­lich gezeigt, dass die EU-Mitglied­staa­ten eine gemein­sa­me Positi­on zum Beitritts­ge­such der Ukrai­ne finden werden, sagte Scholz in einem auf Englisch geführ­ten TV-Inter­view der Deutschen Presse-Agentur: «Wir müssen akzep­tie­ren, dass dies ein einstim­mi­ges Votum von 27 Mitglied­staa­ten ist, und wir werden einen gemein­sa­men Ansatz finden müssen, aber ich bin recht optimis­tisch, dass wir das schaf­fen werden.» Die EU habe infol­ge der russi­schen Aggres­si­on gegen die Ukrai­ne geschlos­sen gehan­delt, «und wir werden das weiter­hin tun», sagte der SPD-Politiker.

Die Empfeh­lung der EU-Kommis­si­on ist Grund­la­ge für einen mögli­chen Beschluss der Mitglied­staa­ten in der Frage. Beitritts­ver­hand­lun­gen mit der Ukrai­ne wie auch mit Moldau sollen nach der Empfeh­lung der Behör­de erst begin­nen, wenn Reform­auf­la­gen umgesetzt wurden.

Scholz machte deutlich, dass die Hürden für einen EU-Beitritt hoch sind, und verwies unter anderem auf die Prinzi­pi­en der Demokra­tie und Rechts­staat­lich­keit sowie auf nötige Antikor­rup­ti­ons­ge­set­ze — und das gelte für alle Länder, die in die EU strebten.

«Die Ukrai­ne verdient eine europäi­sche Perspektive»

EU-Kommis­si­ons­prä­si­den­tin Ursula von der Leyen warb mit eindring­li­chen Worten, ihre Empfeh­lung zu unter­stüt­zen. «Die Ukrai­ne verdient eine europäi­sche Perspek­ti­ve», sagte sie und verwies unter anderem auf eine «sehr robus­te präsi­di­al-parla­men­ta­ri­sche Demokra­tie» und eine sehr gute öffent­li­che Verwaltung.

Mit Blick auf den russi­schen Angriffs­krieg gegen das Land mit seinen rund 40 Millio­nen Bürgern sagte sie: «Die Ukrai­ner sind bereit, für die europäi­sche Perspek­ti­ve zu sterben.» Man wolle es ihnen deswe­gen ermög­li­chen, gemein­sam den europäi­schen Traum zu leben.

Zu dem nur rund 2,6 Millio­nen Einwoh­ner starken Moldau sagte von der Leyen, der kleine Nachbar der Ukrai­ne habe zuletzt mit einem klaren Mandat seiner Bürge­rin­nen und Bürger einen entschei­den­den Schritt in Richtung Refor­men getan.

Barley: EU-Kandi­da­ten­sta­tus wäre Signal an Moskau

Die stell­ver­tre­ten­de EU-Parla­ments­prä­si­den­tin Katari­na Barley warnt vor Abstri­chen bei den Aufnah­me­kri­te­ri­en. «Überstürz­te Beitrit­te darf es nicht geben. Wer einmal in der EU ist, kann nicht ausge­schlos­sen werden», sagte die SPD-Politi­ke­rin der «Neuen Osnabrü­cker Zeitung». Das sehe man derzeit am Beispiel Ungarns, das die Rechts­staat­lich­keit syste­ma­tisch aushöh­le. «Umso wichti­ger ist es, dass die für einen Beitritt festge­leg­ten Krite­ri­en wie zum Beispiel insti­tu­tio­nel­le Stabi­li­tät, funktio­nie­ren­de Markt­wirt­schaft und Rechts­staat­lich­keit voll und ganz erfüllt werden.»

Mit einer Verlei­hung des Kandi­da­ten­sta­tus an die Ukrai­ne komme man dem Land richti­ger­wei­se entge­gen. «Der Kandi­da­ten­sta­tus wäre ein wichti­ges Signal in Richtung Moskau, dass sich die EU nicht einschüch­tern lässt, wenn es darum geht, unsere Werte zu vertei­di­gen», sagte Barley. Die damit verbun­de­nen Anfor­de­run­gen dürften aber nicht zu locker ausge­legt werden. Das sei auch mit Blick auf andere Beitritts­kan­di­da­ten wichtig, die teils schon seit Jahren darauf warte­ten, dass ihre Verfah­ren voran­gin­gen. «Denen sind wir eine Gleich­be­hand­lung schul­dig», beton­te die stell­ver­tre­ten­de EU-Parlamentspräsidentin.

Putin über EU-Perspek­ti­ve für Ukrai­ne: «Haben nichts dagegen»

Russland hat Aussa­gen von Kreml­chef Wladi­mir Putin zufol­ge grund­sätz­lich keine Einwän­de gegen einen EU-Beitritt der Ukrai­ne. «Wir haben nichts dagegen. Es ist die souve­rä­ne Entschei­dung jedes Landes, Wirtschafts­bünd­nis­sen beizu­tre­ten oder nicht beizu­tre­ten», sagte Putin am Freitag beim Inter­na­tio­na­len Wirtschafts­fo­rum in St. Petersburg.

«Die EU ist im Gegen­satz zur Nato keine militä­ri­sche Organi­sa­ti­on, kein politi­scher Block.» Ob eine Mitglied­schaft der Ukrai­ne im Sinne der EU sei, müsse sie selbst wissen, meinte er. «Aber die Wirtschafts­struk­tur der Ukrai­ne ist so, dass sie sehr große Substi­tu­tio­nen brauchen wird.»

Was ist mit den übrigen Kandidaten?

Keine ganz so guten Nachrich­ten hatte die frühe­re deutsche Minis­te­rin von der Leyen für Georgi­en. Das im Südos­ten Europas gelege­ne Land mit rund 3,7 Millio­nen Einwoh­nern soll nach der Empfeh­lung ihrer Kommis­si­on erst den Kandi­da­ten­sta­tus bekom­men, wenn es Aufla­gen erfüllt. Es würde demnach wie derzeit Bosni­en-Herze­go­wi­na und das Kosovo vorerst nur ein poten­zi­el­ler Beitritts­kan­di­dat sein.

Mit ihren Empfeh­lun­gen legte die Behör­de die Grund­la­ge für einen mögli­chen Beschluss der EU-Mitglied­staa­ten. Die Staats- und Regie­rungs­chefs wollen bereits bei einem Gipfel­tref­fen Ende kommen­der Woche über das Thema beraten. Ob dabei schon eine Entschei­dung getrof­fen werden kann, ist aller­dings unklar, da die Ansich­ten der Regie­run­gen zum Thema bislang weit ausein­an­der gingen.

Skepsis aus Portugal

So hielt insbe­son­de­re Portu­gal die Verga­be des Kandi­da­ten­sta­tus an Staaten wie die Ukrai­ne bis zuletzt für nicht angebracht. Es sei ein großes Risiko, dass man falsche Erwar­tun­gen kreiere, die dann zu einer bitte­ren Enttäu­schung führen könnten, sagte Minis­ter­prä­si­dent António Costa jüngst der «Finan­cial Times». Es brauche mehr prakti­sche Unter­stüt­zung der Ukraine.

Ein weite­res Argument von Skepti­kern ist, dass die EU mit ihrem Prinzip der Einstim­mig­keit etwa in Fragen der Außen- und Sicher­heits­po­li­tik schon jetzt als schwer­fäl­lig gilt. Sie mahnen zunächst inter­ne Refor­men an, ehe neuen Mitglie­dern die Tür geöff­net wird.