BERLIN (dpa) — Eine wichti­ge Marke auf dem Weg zur erhoff­ten Herden­im­mu­ni­tät ist erreicht: Annähernd jeder Zweite in Deutsch­land hat mindes­tens eine Sprit­ze zum Schutz vor Covid-19 bekommen.

Im sechs­ten Monat nach dem Start der Corona-Impfkam­pa­gne in Deutsch­land hat beina­he die Hälfte der Bevöl­ke­rung mindes­tens eine erste Dosis erhalten.

Die Quote der erstge­impf­ten Bürge­rin­nen und Bürger lag nach Daten des Robert Koch-Insti­tuts (RKI) bei 48,1 Prozent, 25,7 Prozent haben bereits den vollen Schutz.
Erste Impfung allein bietet nicht ausrei­chend Schutz

Das bedeu­tet auch: Viele Millio­nen Menschen sind noch ungeschützt oder erst teilge­schützt. Eine einma­li­ge Impfung biete noch nicht genügend Schutz vor einer Infek­ti­on, sagte RKI-Präsi­dent Lothar Wieler Anfang Juni. Anders ist das nur beim Janssen-Impfstoff, der bereits nach einer Dosis vollen Schutz bietet. Um weitge­hend auf Maßnah­men verzich­ten zu können, brauch­ten mehr als 80 Prozent der Bevöl­ke­rung einen Immun­schutz — entwe­der durch vollstän­di­ge Impfung oder durch­ge­mach­te Infek­ti­on plus Impfung. Sollte man künftig einer noch anste­cken­de­ren Virus­va­ri­an­te die Stirn bieten müssen, wäre wohl ein noch höherer Anteil nötig.

Wie viel bewir­ken die bishe­ri­gen Erstimp­fun­gen? Ihr Anteil am Rückgang der Fallzah­len seit dem Höhepunkt der dritten Welle ist nicht leicht zu bezif­fern. Exper­ten verwei­sen auf ein Zusam­men­spiel vieler Fakto­ren, darun­ter Impfun­gen, aber auch Corona-Maßnah­men wie Kontakt­be­schrän­kun­gen, Saison­ef­fek­te und das Testver­hal­ten. Da anfangs vor allem Menschen mit hohem Risiko für schwe­re Krank­heits­ver­läu­fe geimpft wurden, beschrie­ben Wissen­schaft­ler die Rolle dieser Impfun­gen zum Bremsen der Pande­mie als unter­ge­ord­net. Denn ältere Menschen haben meist weniger Kontak­te als mobile Junge.

Hohe Impfquo­te kann Risiko für Ungeimpf­te vermindern

«Die zuneh­men­den Impfun­gen helfen dabei, die Infek­ti­ons­zah­len zu senken. Aber dass sie zuletzt nicht allein den Unter­schied machten, sieht man daran, dass die Inziden­zen auch in weitge­hend ungeimpf­ten Alters­grup­pen gesun­ken sind», sagte der Immuno­lo­ge Carsten Watzl der Deutschen Presse-Agentur.

Gesund­heits­da­ten aus Israel weisen aller­dings darauf hin, dass eine hohe Impfquo­te im Land offen­bar das Risiko für ungeimpf­te Jugend­li­che vermin­dern kann, sich mit Corona anzuste­cken. Mit zuneh­men­der Zahl geimpf­ter Erwach­se­ner wurden demnach immer weniger unter 16-Jähri­ge positiv auf Corona getes­tet, berich­ten israe­li­sche Forscher im Fachjour­nal «Nature Medici­ne». Aller­dings seien weite­re Analy­sen zu diesem Effekt nötig.

Exper­ten aus Virolo­gie und Epide­mio­lo­gie erwar­ten, dass sich die Last durch die Krank­heit mit fortschrei­ten­den Impfun­gen immer weiter reduziert: mit weniger Kranken­haus­be­hand­lun­gen, weniger Fällen auf Inten­siv­sta­tio­nen und weniger Todes­fäl­len. Der Virolo­ge Chris­ti­an Drosten stell­te im NDR-Info-Podcast «Corona­vi­rus-Update» in Aussicht, dass man irgend­wann über den Sommer «zu einer anderen Betrach­tung der ganzen Bedro­hungs­la­ge» kommen müsse.

«Die Länder, die eine Durch­imp­fung von 50 oder 60 Prozent haben, dürften dieses Jahr keine größe­ren landes­wei­ten Ausbrü­che oder Wellen mehr erleben, wie wir sie gerade in Indien sehen», sagte der US-Epide­mio­lo­ge Micha­el Oster­holm kürzlich «Zeit Online» mit Blick auf die USA, Großbri­tan­ni­en und Israel. Auch für Deutsch­land erwar­tet das RKI bei vorsich­ti­gen Öffnungs­schrit­ten und zuneh­men­der Durch­imp­fung in nächs­ter Zeit kein unkon­trol­lier­tes Infek­ti­ons­ge­sche­hen mehr.

Vertrau­en muss gestärkt werden

Oster­holm verwies aller­dings auf Bevöl­ke­rungs­grup­pen, in denen wegen gerin­ger Impfquo­ten weiter Ausbrü­che drohen: «Ganz entschei­dend wird in Zukunft sein, ob alle Menschen den Impfstof­fen vertrau­en oder ob sich das Vertrau­en zwischen bestimm­ten Nachbar­schaf­ten, sozia­len Schich­ten und ethni­schen Gruppen stark unterscheidet.»

Genaue Daten zum Impffort­schritt in bestimm­ten Gruppen vermis­sen Exper­ten in Deutsch­land. Seit auch Sprit­zen in Arztpra­xen gesetzt werden, gibt es in RKI-Statis­ti­ken zum Beispiel nur noch eine grobe Alters­ein­tei­lung: Ablesen lässt sich der Anteil der Impfun­gen bei Menschen über 60 oder unter 60 Jahren — und das auch nicht bei allen Bundes­län­dern. Genaue­re Daten würden höheren Dokumen­ta­ti­ons­auf­wand bedeuten.

Watzl befürch­tet für Deutsch­land, dass Impfmü­dig­keit einset­zen könnte, wenn erst einmal 50 Prozent und mehr geimpft sind: «Wenn es uns gelingt, die Inziden­zen über den Sommer niedrig zu halten, werden sich 30-Jähri­ge, die im Frühjahr nicht an einen Impfter­min gekom­men sind, vielleicht fragen, warum sie sich jetzt noch impfen lassen sollten. Sie könnten sich fragen, wo denn ihr Risiko ist.» Auch in anderen Ländern, die bereits höhere Quoten aufwei­sen, zeigte sich, dass die Kampa­gnen ab einem gewis­sen Punkt ins Stocken gerie­ten — teils wird dort nun mit allen erdenk­li­chen Anrei­zen für den Piks geworben.

Vierte Welle im Herbst erwartet

Dabei ist der General­se­kre­tär der Deutschen Gesell­schaft für Immuno­lo­gie sicher, dass es eine vierte Welle geben wird, spätes­tens im Herbst. «Wie groß sie ausfal­len wird, hängt vom Impferfolg und der Höhe der Inziden­zen am Ende des Sommers ab.» Vermie­den werde müsse ein Szena­rio, bei dem ein Teil der Bevöl­ke­rung erst im Herbst bei direk­ter Konfron­ta­ti­on mit der Virus­ge­fahr wieder ans Impfen denkt: «Dann bekom­men wir ein logis­ti­sches Problem.»

Erstimp­fun­gen gelten als Schutz insbe­son­de­re vor schwe­rer Erkran­kung. Dieser wird durch die Zweit­imp­fung noch verbes­sert und verlän­gert. «Ein bisschen entspan­nen können sich einfach Geimpf­te, aber leicht­sin­nig werden sollten sie nicht», sagte Watzl. Insbe­son­de­re Virus­va­ri­an­ten, die seit Monaten für das Gros der Fälle in Deutsch­land sorgen, werden als Gefahr gesehen. «Die Zweit­imp­fung ist dringend notwen­dig, um auch die Mutan­ten gut abweh­ren zu können.» Ledig­lich das Präpa­rat von Johnson & Johnson ist als Einmal­imp­fung zugelassen.

Aller­dings wirkt keine Impfung zu 100 Prozent, Anste­ckun­gen und zumin­dest leich­te­re Erkran­kun­gen sind weiter­hin möglich — sie sind nur wesent­lich unwahr­schein­li­cher. Varian­ten können zudem durch Erbgut­ver­än­de­run­gen Eigen­schaf­ten erlangt haben, die es ihnen ermög­li­chen, Antikör­pern von Geimpf­ten und Genese­nen zu entge­hen. In der Fachspra­che heißt das Immune­s­cape (Immun­flucht). Beobach­tet wird das etwa bei Beta (B.1.351), Gamma (P.1) und Delta (B.1.617). Der Immun­schutz wird nicht komplett ausge­schal­tet, ist aber merklich vermindert.

Immun­ge­schwäch­te Menschen haben weniger Impfschutz

Die derzeit in Deutsch­land dominie­ren­de Varian­te Alpha (B.1.1.7) hat die Eigen­schaft, anste­cken­der zu sein. Wie eine «Science»-Studie kürzlich zeigte, schei­den damit Infizier­te etwa 10 mal mehr Virus aus als Menschen, die sich mit Vorgän­ger­ver­sio­nen ansteck­ten. Auch das ist für den Impfschutz bedeut­sam, wie Watzl erläu­tert: «Wie gut der Schutz ausfällt, hängt nicht nur vom Immun­sys­tem des Einzel­nen ab, sondern auch von der Menge an Virus, der man ausge­setzt ist.»

Zudem hat sich gerade bei immun­ge­schwäch­ten Menschen — etwa nach Organ­trans­plan­ta­ti­on oder mit Krebs — gezeigt, dass die Impfung nicht so gut anschlägt. Watzl rechnet in diesen Gruppen mit Dritt­imp­fun­gen bereits im Herbst.

Nach Zahlen, die das Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um im Mai bekannt­gab, steck­ten sich bisher rund 13.000 Menschen an, die bereits voll geimpft waren. Die Zahl klingt hoch, aber in Relati­on zur Gesamt­zahl der bis dahin komplett Geimpf­ten waren nur 0,16 Prozent betrof­fen. Auch war bei den Zahlen nicht klar, ob die Infek­ti­on bei vollem Impfschutz auftrat — also mehr als 14 Tage nach der zweiten Impfung — oder in den Tagen davor.

Von Gisela Gross, dpa