BERLIN (dpa) — Russi­sche Angrif­fe gegen die Ukrai­ne, Moskau­er Drohun­gen gegen die Nato-Staaten. Der Krieg löst auch in Deutsch­land viele Sorgen aus. Was passiert, wenn etwas passiert?

Der russi­sche Präsi­dent Wladi­mir Putin lässt seinen Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne näher an die Ostflan­ke der Nato heran­tra­gen. Als Russlands Militär am Sonntag unweit der polni­schen Grenze den Truppen­übungs­platz Jawor­iw attackier­te, waren Explo­sio­nen bereits auf dem Bündnis­ge­biet zu hören.

Eine Antwort der Nato auf die Lage ist unter­wegs und soll binnen Tagen — als Abschre­ckung — einsatz­be­reit sein: Aus Husum an der Nordsee­küs­te bringt die Bundes­wehr das Flugab­wehr­ra­ke­ten­sys­tem Patri­ot auf den Weg zur Statio­nie­rung in die Slowakei.

Während die Waffen­sys­te­me noch Richtung Südos­ten rollten, wurde in Brüssel über die Lage beraten. «Auch wenn es bisher keine Anhalts­punk­te dafür gibt, dass das Bündnis­ge­biet angegrif­fen wird, so können wir das nicht gänzlich ausschlie­ßen, und wir müssen vorbe­rei­tet sein», sagte Chris­ti­ne Lambrecht (SPD) am Mittwoch am Rande des Nato-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter­tref­fens. «Mir ist ganz wichtig dabei, dass wir jetzt sehr inten­siv darüber disku­tie­ren: Was ist glaub­wür­di­ge Abschre­ckung? Und was ist dafür erfor­der­lich?.» Auf dem Tisch liegen gehei­me Pläne für eine dauer­haf­te Verstär­kung der Nato im Osten.

Das Patri­ot-System ist die schnel­le Reakti­on auf die Bedro­hung. Die Waffe dient zur Bekämp­fung von Flugzeu­gen, takti­schen ballis­ti­schen Raketen und Marsch­flug­kör­pern. Der Abschuss erfolgt aus der mobilen Start­sta­ti­on (Launcher), die kisten­för­mig und hydrau­lisch ausricht­bar auf einem vierach­si­gen Lastwa­gen angebracht ist. Das Gesamt­sys­tem ist ein kleiner Technik­park mit Feuer­leit­stand, Logis­tik, Strom­erzeu­gung und Radar­ge­rä­ten. Die Abwehr­ra­ke­ten wirken in eine Höhe von 30 Kilome­tern und können damit anflie­gen­de Flugzeu­ge und Raketen, die aus bis zu 1000 Kilome­tern abgeschos­sen werden, abfangen.

Deutsch­land verfügt noch über 12 Abschuss­an­la­gen, von denen nun mindes­tens eine in die Slowa­kei geht. Die alte Bundes­re­pu­blik hatte aller­dings noch 36 Patri­ot-Launcher. Sie waren Teil von insge­samt 90 Kampf­staf­feln der westdeut­schen Flugab­wehr, die entlang der inner­deut­schen Grenze für verschie­de­ne Höhen­be­rei­che bereit war. Unter Regie des CSU-Vertei­di­gungs­mi­nis­ters Karl-Theodor zu Gutten­berg wurden die Patri­ots — und auch andere Teile des Bundes­wehr — zusammengestrichen.

«Es gibt da keinen Automatismus»

Was passiert nun, wenn etwas passiert? Nach dem Angriff nahe der polni­schen Grenze sagte General­leut­nant a. D. Erhard Bühler im MDR-Aktuell-Podcast, ein einzel­ner Fehlschuss auf polni­sches Gebiet wäre «nicht sofort der Bündnis­fall». Man müsste dann sehr sorgfäl­tig und gründ­lich schau­en, ob es sich um einen Fehler oder einen beabsich­tig­ten Angriff handle. Der Ex-General machte deutlich: «Es gibt da keinen Automatismus.»

Bei einem Patri­ot-Einsatz wie in der Slowa­kei werden für die Abwehr­ra­ke­ten üblicher­wei­se sogenann­te Waffen­ein­satz­zo­nen festge­legt, eine Art rote Linie im Luftraum. Die Entschei­dung, ein russi­sches Flugzeug abzuschie­ßen ist angesichts des Eskala­ti­ons­po­ten­zi­als überaus gewich­tig und wird nicht aus dem Feuer­leit­stand in der Slowkai getrof­fen, sondern von dem zustän­di­gen Nato-Gefechtstand in Uedem (Nieder­sach­sen), dem «Combi­ned Air Opera­ti­ons Centre». Und auch noch nach dem Feuer­kom­man­do kann die Rakete im Flug deakti­viert werden, wenn der militä­ri­sche Gegner abdreht.

Das System ist technisch perfek­tio­niert, doch stößt es auch schnell an physi­ka­li­sche Grenzen und eine mögli­che Überlas­tung durch eine Vielzahl an Zielen. Eine zentra­le Frage, die die Zivil­be­völ­ke­rung in Europa nach dem russi­schen Angriff beschäf­tigt, ist: Wieviel Schutz kann die Luftab­wehr bieten? Oder, zugespitzt: Könnten damit Raketen der Atommacht Russland noch vor dem Einschlag neutra­li­siert werden?

Die Antwort von Militär­ex­per­ten ist komplex und ernüch­ternd zugleich. Die Vorstel­lung, im Falle eines großan­ge­leg­ten Angriffs alle Raketen mit einer boden­ge­bun­de­nen Luftab­wehr zu zerstö­ren, sei «absurd». Für den Schutz könne man nur auf ein Gesamt­pa­ket aus Abwehr, Kampf­flug­zeu­gen in der Luft und der Abschre­ckung — also Drohung mit Gegen­schlä­gen — setzen. Und auf das Nato-Bündnis.

Hightech-Waffen sind überaus teuer

Dabei will Deutsch­land aber zwei militä­ri­sche «Fähig­keits­lü­cken» angehen: Dazu gehört die mobile Flugab­wehr im Nah- und Nächst­be­reich, die einst als Parade­dis­zi­plin der Bundes­wehr galt und auch mit dem jetzt zuneh­men­den Einsatz von Kampf­droh­nen an Bedeu­tung gewon­nen hat. Sie ist vor allem für die Solda­ten selbst als Schutz gegen Angrif­fe im Einsatz relevant — und könnte binnen weniger Jahren wieder neu aufge­stellt werden. Dagegen könnte ein länge­res Projekt die Beschaf­fung von Syste­men sein, die weiter als die Patri­ot reichen, wie die israe­li­sche Abwehr­ra­ke­te «Arrow».

Deutsch­land selbst hat länge­re Zeit ein Takti­sches Luftver­tei­di­gungs­sys­tem — kurz TLVS — mitge­plant, dann aber mit Blick auf Kosten von geschätz­ten über zehn Milli­ar­den Euro den Schwung verlo­ren. Die Hightech-Waffen sind überaus teuer. Schon ein älterer Patri­ot-Lenkflug­kör­per PAC‑2 kostet zwei Millio­nen Euro pro Stück, die moder­ne­re Varian­te PAC‑3 ist noch teurer. Die Muniti­on allein kostet also in größe­rer Zahl Milli­ar­den. Aller­dings ist auch die Bedro­hung gewach­sen, und es soll ein Sonder­ver­mö­gen über 100 Milli­ar­den Euro für die Bundes­wehr geben.

«Die Lage hat sich drama­tisch verän­dert. Darauf muss auch die Indus­trie reagie­ren. Statt auf ein Abwehr­sys­tem, das in 10 Jahren bereit­steht, setzen wir nun auf einen dreistu­fi­gen Prozess», sagt Thomas Gottschild, Geschäfts­füh­rer des Rüstungs­un­ter­neh­mens MBDA Deutsch­land, der Deutschen Presse-Agentur. MBDA ist langjäh­ri­ger Partner bei der Adapti­on des US-Systems Patri­ot für die Bundes­wehr und war als General­un­ter­neh­mer mit dem Partner Lockheed Martin wesent­lich für die Neuent­wick­lung von TLVS verantwortlich.

Statt auf ein Abwehr­sys­tem, das in 10 Jahren bereit­ste­he, setzt MDBA nun auf einen dreistu­fi­gen Prozess: «Erstens geht es um die Bereit­stel­lung zusätz­li­cher Patri­ot-Einhei­ten und Flugkör­per. Zweitens wollen wir die Leistungs­fä­hig­keit von Patri­ot erhöhen, indem wir beispiels­wei­se moder­ne Radare oder Flugkör­per einbin­den», sagt Gottschild. Drittens seien die Weichen für ein «TLVS zu stellen, das sowohl auf Patri­ot aufsetzt als auch die Ergeb­nis­se der ursprüng­li­chen Entwick­lung nutzt».

Von Carsten Hoffmann, dpa