BERLIN/BRÜSSEL (dpa) — Ab Oktober greift die neue Gasum­la­ge, die Mehrwert­steu­er kommt oben drauf. Die EU-Kommis­si­on macht Vorschlä­ge für Entlas­tun­gen. Wirtschafts­wis­sen­schaft­ler fordern direk­te Zahlun­gen vor allem für die Mittelschicht.

Millio­nen Haushal­te in Deutsch­land dürften im Herbst unter stark gestie­ge­nen Gasprei­sen ächzen, verur­sacht auch durch die neue Gasum­la­ge. Viele könnten das nicht aus eigener Kraft stemmen, warnen Ökono­men. Der Druck auf die Bundes­re­gie­rung steigt, möglichst bald ein neues Entlas­tungs­pa­ket zu schnü­ren. Ein Überblick, wie die Lage ist und welche Vorschlä­ge es gibt:

Warum bei der Gasum­la­ge Mehrwert­steu­er fällig wird

Die von der Bundes­re­gie­rung gewünsch­te Ausnah­me von der Mehrwert­steu­er für die geplan­te Gasum­la­ge ist endgül­tig vom Tisch. Der gegen­wär­ti­ge recht­li­che Rahmen lasse eine Ausnah­me für die Umlage nicht zu, schrieb EU-Wirtschafts­kom­mis­sar Paolo Genti­lo­ni am Mittwoch in einem Brief an Bundes­fi­nanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lindner (FDP).

Die staat­li­che Gasum­la­ge gilt ab Oktober. Sie soll Gasver­sor­ger absichern, die zu hohen Preisen Ersatz für ausblei­ben­des, günsti­ge­res Gas aus Russland kaufen müssen. Hinzu kommt, dass höhere Beschaf­fungs­kos­ten ohnehin schritt­wei­se bei den Kunden ankommen.

Die Umlage von rund 2,4 Cent pro Kilowatt­stun­de bedeu­tet für einen Einper­so­nen­haus­halt mit einem Jahres­ver­brauch von 5000 Kilowatt­stun­den mit Mehrwert­steu­er jährli­che Zusatz­kos­ten von rund 144 Euro. Für einen Famili­en­haus­halt mit 20.000 Kilowatt­stun­den liegen die Mehrkos­ten inklu­si­ve Mehrwert­steu­er bei rund 576 Euro.

Welche Vorschlä­ge die EU-Kommis­si­on macht

EU-Kommis­sar Genti­lo­ni schlug vor, die Bundes­re­gie­rung könnte die Mehrwert­steu­er im Nachhin­ein an die Verbrau­cher zurück­zah­len. Das könnte insbe­son­de­re Haushal­ten mit wenig Einkom­men zugute kommen und diese damit auch für die Umlage selbst entschä­di­gen. Zweitens könnten Energie­un­ter­neh­men davon profi­tie­ren, sodass Endkun­den entlas­tet würden. Alter­na­tiv könne man die gelten­de Mehrwert­steu­er auf den EU-Mindest­satz von fünf Prozent reduzie­ren, schrieb Genti­lo­ni. Schließ­lich könnte man die Umlage schlicht senken. In Deutsch­land gilt in der Regel ein Mehrwert­steu­er­satz von 19 Prozent, der ermäßig­te Satz liegt bei 7 Prozent.

Was Ökono­men und Verbän­de vorschlagen

Marcel Fratz­scher, der Präsi­dent des Deutschen Insti­tuts für Wirtschafts­for­schung, sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Das beste Instru­ment sind direk­te Trans­fer­zah­lun­gen wie ein Energie­geld von 100 Euro pro Person und pro Monat für die kommen­den 18 Monate.» Dieses sollte aber nur an Menschen mit mittle­ren und gerin­gen Einkom­men gehen und nicht an Menschen mit hohen Einkommen.

Der wissen­schaft­li­che Direk­tor des Insti­tuts für Makro­öko­no­mie und Konjunk­tur­for­schung der Hans-Böckler-Stiftung, Sebas­ti­an Dulli­en, sagte, denkbar und sinnvoll wäre eine Neuauf­la­ge der Energie­pau­scha­le. Diese könne im Dezem­ber ausge­zahlt werden. Dabei sollten auch Haushal­te berück­sich­tigt werden, die bislang weitge­hend leer ausgin­gen, etwa Rentner mit niedri­gen Einkom­men, aber ohne Wohngeld­be­zug. «Eine andere, gute Möglich­keit wäre, einen Gaspreis­de­ckel für einen Grund­ver­brauch pro Haushalt einzuführen.»

Die von der Bundes­re­gie­rung beschlos­se­ne Energie­pau­scha­le von einma­lig 300 Euro kommt im Septem­ber. Das Geld wird mit dem Gehalt ausge­zahlt, dementspre­chend sind darauf auch Steuern zu zahlen. Die Pauscha­le ist Teil der bishe­ri­gen Entlastungspakete.

Der Stadt­wer­ke­ver­band VKU schlug vor, die Mehrwert­steu­er für Strom‑, Gas- und Wärme­lie­fe­run­gen generell zu senken, auf den ermäßig­ten Steuer­satz von 7 Prozent oder sogar auf 5 Prozent. Zusätz­lich könnte die Strom­steu­er auf das europäi­sche Mindest­maß reduziert werden.

Was die Bundes­re­gie­rung bisher angekün­digt hat

Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) hat den Bürgern zugesi­chert, es werde niemand allei­ne gelas­sen. Er hat bisher eine Wohngeld­re­form mit einer deutli­chen Auswei­tung der Berech­tig­ten angekün­digt, zum 1. Januar 2023. Ebenfalls zum 1. Januar soll ein Bürger­geld kommen, welches das bishe­ri­ge Hartz-IV-System ablösen soll.

Scholz sagte in der vergan­ge­nen Woche, die Regie­rung wolle auch etwas für dieje­ni­gen tun, die zwar ein Arbeits­ein­kom­men hätten, aber auch rechnen müssten, die keine Erspar­nis­se hätten und mit den gestie­ge­nen Energie­kos­ten nicht ohne Weite­res umgehen könnten. «Das gilt für ganz viele Bürge­rin­nen und Bürger», sagte der SPD-Politi­ker. «Es geht mir um dieje­ni­gen, die 2800, 3200 oder 4000 Euro brutto im Monat verdie­nen, für die das alles große Heraus­for­de­run­gen sind.» Es gehe um ein Gesamtpaket.

Was die Aussa­gen von Scholz bedeuten

Scholz’ Pläne zielten bis weit in die Mitte hinein, sagte Maximi­li­an Stock­hausen vom Insti­tut der deutschen Wirtschaft. Wegen der kriegs­be­ding­ten Preis­stei­ge­run­gen, vor allem bei Energie und Lebens­mit­teln, sei eine Entlas­tung insbe­son­de­re der «unteren Mitte» ebenso angezeigt wie die Entlas­tung unterer Einkom­mens­schich­ten. Vorschlä­ge zur Einrich­tung von Härte­fall­fonds seien beson­ders sinnvoll, weil dies indivi­du­el­le und zeitna­he Lösun­gen ermögliche.

Dulli­en sagte, die von Scholz genann­ten Einkom­mens­grup­pen entsprä­chen der unteren Mittel­schicht in Deutsch­land. «2021 etwa lag der durch­schnitt­li­che Brutto­ver­dienst eines Vollzeit­be­schäf­tig­ten bei etwas mehr als 4000 Euro pro Monat.» Fratz­scher sagte, die von Scholz genann­te Gruppe habe kaum Erspar­nis­se, um zusätz­li­che Kosten abzude­cken, und sie erhal­te kaum direk­te Unter­stüt­zung vom Staat. Daher könnten diese Menschen aus eigener Kraft die Kosten der höheren Infla­ti­on nicht selbst stemmen und benötig­ten dringend Unter­stüt­zung. «Die Politik muss nun dringend ein drittes Entlas­tungs­pa­ket umset­zen, welches mit obers­ter Priori­tät diese Gruppe entlastet.»

Von Andre­as Hoenig und Laura Dubois, dpa