TUTTLINGEN — Sieben weite­re Stolper­stei­ne wurden am Diens­tag in Tuttlin­gen verlegt. Sie erinnern an Menschen, die während der NS-Dikta­tur verfolgt, vertrie­ben oder ermor­det wurden. Verlegt wurden die meisten Steine von Angehö­ri­gen der Opfer.

Sie waren jüdischen Glaubens oder Anhän­ger der Sozial­de­mo­kra­tie. Sie waren psychisch krank oder auch nur psychisch angeschla­gen. Es waren Männer und Frauen. Es waren Arbei­ter, Hausfrau­en oder Kaufleu­te. Doch so unter­schied­lich die Menschen waren – sie hatten zwei Dinge gemein­sam: Sie waren Tuttlin­ger Bürge­rin­nen und Bürger. Und sie passten nicht ins menschen­ver­ach­ten­de Weltbild der Natio­nal­so­zia­lis­ten. Deshalb wurden sie vertrie­ben, verfolg, inhaf­tiert, drang­sa­liert – und auch ermordet.

Seit Diens­tag erinnern sieben weite­re Stolper­stei­ne an die Biogra­phien dieser Menschen. „Den Nazis ist eines nicht gelun­gen“, so Oberbür­ger­meis­ter Micha­el Beck in seiner Begrü­ßung, „nämlich diese Menschen auch aus der Erinne­rung zu tilgen: Denn sie sind nicht verges­sen. Sie leben auch für ihre Angehö­ri­gen weiter.“

Diese Angehö­ri­gen spiel­ten bei der mittler­wei­le fünften Stolper­stein­ver­le­gung in Tuttlin­gen eine ganz beson­de­re Rolle: Nachdem der Initia­tor der Aktion, der Künst­ler Gunter Demnig, coronabe­dingt den ursprüng­lich geplan­ten Termin absagen musste und beim Ersatz­ter­min diese Woche verhin­dert war, übernah­men die Angehö­ri­gen die eigent­li­che Verle­ge­ar­beit. Assis­tiert vom Bauhof setzten die Angehö­ri­gen sowie andere inter­es­sier­te Bürge­rin­nen und Bürger die Stolper­stei­ne in die dafür vorge­se­he­nen Löcher.

Recher­chiert wurden die Biogra­phien der Opfer wieder von Museums­lei­te­rin Gunda Woll. Schüle­rin­nen und Schüler des IKG trugen die Texte vor und gaben somit Einbli­cke in Lebens­läu­fe, die teils gewalt­sam endeten. So sind allei­ne vier der neuen Stolper­stei­ne Opfern der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kranken­mor­de gewid­met: Hedwig Glocker, Anna Schau­er, Adolf Heinrich Zeeb und Maria Grotz wurden allesamt in der Tötungs­an­stalt Grafenekc ermor­det. Der Sozial­de­mo­krat Heinrich Zepf wurde mehrfach inhaf­tiert und drang­sa­liert. Er überleb­te zwar die NS-Zeit, starb aber kurz nach dem Krieg an den Folgen der in Haft erlit­te­nen Krank­hei­ten. Das jüdische Ehepaar Thekla und Ludwig Maier schaff­te zwar unter schwe­ren Umstän­den die Flucht in die USA, verlor aber mehre­re Angehö­ri­ge in KZs.

Sämtli­che Biogra­phien sind im Inter­net ausführ­lich dokumen­tiert – zum einen auf www.tuttlingen.de /stolpersteine, zum anderen auf der Stolper­stein-Guide-App. Außer­dem gibt es mittler­wei­le einen eigenen Wikipe­dia-Beitrag über Stolper­stei­ne in Tuttlingen.

Gunda Woll schätzt, dass mit den mittler­wei­le 41 Stolper­stei­nen nicht einmal die Hälfte der Tuttlin­ger NS-Opfer gewür­digt wird. Bei der Feier am Diens­tag kündig­te OB Micha­el Beck daher an, dass die Stadt weite­re Steine verle­gen werde. An zwei aktuel­len Beispie­len erläu­ter­te Beck, wie wichtig das Thema auch 76 Jahre nach Ende der NS-Dikta­tur ist: Im Zusam­men­hang mit dem Corona-Lockdown sei immer wieder auch die Frage gestellt worden, ob sich eine Gesell­schaft den Schutz der Schwa­chen überhaupt leisten könne. „Genau diese Gedan­ken waren es aber auch, die – konse­quent weiter gedacht – in die Eutha­na­sie führten“, so Beck. Und als im letzten Sommer die großen Demons­tra­tio­nen gegen die Corona-Maßnah­men began­nen, seien Rechts­extre­mis­ten und Antise­mi­ten vorne mit dabei gewesen. „Was mich am meisten schockier­te“, so Beck, „keiner der anderen Demons­tran­ten störte sich daran – im Gegen­teil: Alle sahen sich als gemein­sa­me Freiheits­kämp­fer gegen eine angeb­li­che Corona-Dikta­tur.“ Die beiden Beispie­le zeigten, dass nach wie vor die Gefahr existie­re, dass rechts­extre­mes Gedan­ken­gut auch in die Mitte der Gesell­schaft sickert.