BERLIN (dpa) — Zwei Wochen vor dem ersten Advent wird jährlich der Opfer von Krieg und Gewalt­herr­schaft gedacht. Der diesjäh­ri­ge Volks­trau­er­tag stand im Zeichen des russi­schen Angriffs­kriegs auf die Ukraine.

Mit einer zentra­len Gedenk­ver­an­stal­tung im Bundes­tag ist zum Volks­trau­er­tag an die Opfer von Krieg und Gewalt­herr­schaft erinnert worden. Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er sprach am Sonntag das tradi­tio­nel­le Toten­ge­den­ken. Ein zentra­les Thema bei der Veran­stal­tung war der russi­sche Angriff auf die Ukraine.

Lettlands Staats­prä­si­dent Egils Levits rief als Gastred­ner zur inneren und äußeren Stärkung der Demokra­tie auf. Die Geschich­te zeige, dass eine Schwä­che der Demokra­tie zu Krieg und Gewalt führen könne, sagte Levits in seiner auf Deutsch gehal­te­nen Gedenk­re­de. Er forder­te die Länder der Europäi­schen Union auf, «gebüh­rend» in ihre Vertei­di­gung zu inves­tie­ren und solida­risch zu sein mit denje­ni­gen, die für Demokra­tie und gemein­sa­me Werte kämpften.

Der letti­sche Präsi­dent würdig­te den Umgang Deutsch­lands mit der eigenen Geschich­te. Die deutsche Gesell­schaft habe sich durch eine «schonungs­lo­se Aufar­bei­tung ihrer Vergan­gen­heit» ein festes Funda­ment demokra­ti­scher Werte aufge­baut. Die russi­sche Gesell­schaft habe das nie getan. «Dieses Unver­mö­gen zur Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung hat der Wieder­ge­burt der kruden Ideolo­gie des russi­schen Imperia­lis­mus den Weg berei­tet», sagte er mit Blick auf den Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne. Die Demokra­tie und der Westen als ihre Verkör­pe­rung seien der eigent­lich viel größe­re Feind dieser «gewalt­tä­ti­gen Ideologie».

Am Volks­trau­er­tag wird jedes Jahr im Bundes­tag der Opfer von Krieg und Gewalt­herr­schaft gedacht. Der staat­li­che Gedenk­tag — immer zwei Sonnta­ge vor dem ersten Advent — wird in Deutsch­land seit 1919 began­gen, einge­führt durch den im selben Jahr gegrün­de­ten Volks­bund Deutsche Kriegs­grä­ber­für­sor­ge. Ursprüng­lich ging es darum, Solida­ri­tät mit den Hinter­blie­be­nen der Opfer des Ersten Weltkriegs zu zeigen. Inzwi­schen gedenkt die Bundes­re­pu­blik aller Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.

Stein­mei­er, Levits und führen­de Vertre­ter von Bundes­tag, Bundes­rat und Bundes­wehr legten vor der Gedenk­stun­de im Parla­ment zunächst Kränze in der Zentra­len Gedenk­stät­te der Bundes­re­pu­blik in der Neuen Wache in Berlin nieder.

Harbarth: Ein Angriff auf die freie Welt

Der Präsi­dent des Volks­bun­des Deutsche Kriegs­grä­ber­für­sor­ge, Wolfgang Schnei­der­han, sagte im Bundes­tag: «In unser heuti­ges Geden­ken an die Opfer von Krieg und Gewalt­herr­schaft bezie­hen wir die Toten und Verletz­ten des russi­schen Angriffs mit ein. Auch aus ihren Gräbern erschallt der Ruf «nie wieder Krieg!»»

Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts-Präsi­dent Stephan Harbarth sagte bei einer Gedenk­ver­an­stal­tung in Stutt­gart, selten sei die Botschaft des Volks­trau­er­ta­ges von so bedrän­gen­der Gegen­wär­tig­keit gewesen wie dieses Jahr. Mitten in Europa herrsche nun ein völker­rechts­wid­ri­ger Krieg, der an den Grund­fes­ten der europäi­schen Friedens­ord­nung rüttle, mahnte er laut Redema­nu­skript. Der Angriff auf die Ukrai­ne sei ein Angriff auf die freie Welt. Das Bekennt­nis zu Freiheit und Demokra­tie besit­ze aber eine Strahl­kraft, die auf Dauer jeder Gewalt­herr­schaft überle­gen sei.

Auch der ehema­li­ge Bundes­prä­si­dent Joachim Gauck erinner­te zum Volks­trau­er­tag an das Kriegs­leid in der Ukrai­ne. «Wir leben in Zeiten, in denen wieder Krieg ist in Europa, in denen erneut ein menschen­ver­ach­ten­des Regime die Freiheit und den Frieden bedroht», sagte er laut vorab verbrei­te­tem Redema­nu­skript auf einem Solda­ten­fried­hof in Sinzig (Rhein­land-Pfalz). Und niemand wisse, wie weit die Ambitio­nen des russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin bei der Wieder­errich­tung eines großrus­si­schen Imperi­ums noch reich­ten. «Niemand kann sagen, dass Übergrif­fe auf das Nato-Terri­to­ri­um, insbe­son­de­re auf die balti­schen Staaten — oder etwa weite­re Angrif­fe auf Georgi­en oder Molda­wi­en — ausge­schlos­sen sind», warnte er.

Volks­bund-Präsi­dent Schnei­der­han, von 2002 bis 2009 General­inspek­teur der Bundes­wehr, hatte zuvor auch für ein stärke­res Bemühen um russi­sche Gesprächs­part­ner plädiert. Dabei sollten die Kirchen schau­en, «ob es noch zivil­ge­sell­schaft­li­che Anknüp­fungs­punk­te in Russland gibt», sagte Schnei­der­han der Deutschen Presse-Agentur. «Es wird ein Danach geben. Russland verschwin­det nicht von dieser Weltkar­te.» Die kommen­den Heraus­for­de­run­gen würden komplex und kompli­ziert und anders «als 1945 nach der letzten Nieder­la­ge Deutsch­lands». «Diese Situa­ti­on wird sich so nicht wieder­ho­len. Der Weg zu Frieden und Aussöh­nung wird viel schwe­rer werden.»