MÜNCHEN (dpa) — Was für ein Zittern! Was für eine Erlösung! Leon Goretz­ka hat die Fußball-Natio­nal­mann­schaft im Gewit­ter­re­gen von München vor dem nächs­ten großen Turnier-Schock bewahrt und Joachim Löw zumin­dest ein weite­res K.o.-Spiel vor der Bundes­trai­ner-Rente gesichert.

Nach dem mühevol­len 2:2 (0:1) durch den Ausgleichs­tref­fer des Münch­ners gegen Ungarn steht die lange erschre­ckend hilflo­se und vom Außen­sei­ter fast düpier­te DFB-Elf doch noch im Achtel­fi­na­le der Europameisterschaft.

Ohne Goretz­kas Tor in der 84. Minute hätten die ungari­schen Treffer des Mainzers Adam Szalai (11.) und von Andras Schäfer (67.) nur drei Jahre nach dem WM-Desas­ter von Russland das nächs­te Vorrun­den-Aus besie­gelt und die Ära Löw nach 15 Jahren ein klägli­ches Ende genom­men. Den ersten Ausgleich von Kai Havertz (66.) hatten die Ungarn sofort gekon­tert. Dennoch ist im Achtel­fi­na­le am 29. Juni beim Klassi­ker in Wembley gegen England eine enorme Leistungs­stei­ge­rung notwen­dig. Sonst bleibt eine erneu­te Reise nach London zur Final­wo­che im Juli reine Utopie.

Löw setzte im Endspurt auf volle Offen­si­ve und brach­te Thomas Müller Timo Werner, Kevin Volland und Debütant Jamal Musia­la als Joker — die Rechnung ging gerade noch auf. Musia­la als jüngs­ter deutscher Turnier­spie­ler leiste­te die Vorar­beit zu Goretz­kas entschei­den­dem Treffer.

Es regne­te zwischen­zeit­lich heftig am Abend — wie beim «Wunder vom Bern» vor 67 Jahren im WM-Finale gegen die Ungarn, was dem Mythos nach der Elf um Kapitän Fritz Walter zum Titel verhol­fen hatte. Löw stand in München nach dem Anpfiff in hellgrau­er Regen­ja­cke am Spiel­feld­rand. Der Bundes­trai­ner sah zwar früh die erste gute Chance seiner offen­siv einge­stell­ten Mannschaft, als Joshua Kimmich, der wieder auf der rechten Seite spiel­te, aus kurzer Distanz Ungarns Natio­nal­tor­wart Peter Gulacsi von RB Leipzig prüfte (4.). Wenig später folgte aber eine Fehler­ket­te, die im Gruppen­fi­na­le einer EM nicht passie­ren darf.

In der Rückwärts­be­we­gung agier­ten Toni Kroos und Robin Gosens viel zu passiv, beide verhin­der­ten den langen Ball von Roland Sallai nicht, den Szalai stark gegen Mats Hummels und Matthi­as Ginter verwer­te­te. Der dritte Rückstand im dritten Spiel — Deutsch­land war zu diesem Zeitpunkt ausge­schie­den. In der Münch­ner EM-Arena sangen und grölten nur noch die ungari­schen Fans, die hinter Manuel Neuers Tor ohne Abstand die Führung feierten.

Regen­bo­gen­fah­nen waren nach der Aufre­gung der vergan­ge­nen Tage um die Arenabe­leuch­tung im Stadi­on selten zu sehen, Neuer trug wie erwar­tet aber wieder seine bunte Kapitäns­arm­bin­de. Der Bayern-Keeper trieb die Mannschaft an, lange Zeit vergeb­lich. Mit dem Gegen­tor kam die Angst.

Die Aufga­be gegen den defen­siv unbeque­men Gegner wurde für die DFB-Auswahl immer schwie­ri­ger. In zurück­ge­zo­ge­ner 5–3‑2-Aufstellung vertei­dig­ten die Ungarn das eigene Tor, in dem Gulacsi auch gegen Ginter sicher hielt, nachdem Hummels per Kopf nur die Latte getrof­fen hatte (21.). Serge Gnabry, Havertz und Leroy Sané, der den angeschla­ge­nen Müller in der Start­elf ersetz­te, boten sich vorne kaum Räume. Zur Mitte der ersten Halbzeit erinner­te das Spiel an eine Handball-Partie um den ungari­schen Straf­raum. Löw wirkte an der Seiten­li­nie jedoch energie­los, der Bundes­trai­ner gab kaum einen Impuls von außen.

Die DFB-Auswahl hatte zwar deutlich mehr Ballbe­sitz, schaff­te es aber vor der Halbzeit­pau­se viel zu selten in den Straf­raum. «Die drei vorne müssen schau­en, dass wir im Zentrum viel Wirbel machen», hatte Löw kurz vor dem Spiel im ZDF gesagt und Sané «Weltklas­se» beschei­nigt, wenn dieser seine Quali­tä­ten abrufe. Der Münch­ner hatte es bei zwischen­zeit­lich stärker werden­dem Regen aber weiter­hin große Proble­me, sich gegen die rigoros kämpfen­den Ungarn in Szene zu setzen, die zudem bei Kontern gefähr­lich blieben.

Der Abschluss von Havertz weit neben das Tor war bezeich­nend für die erste Halbzeit (45.). Löw warte­te mit in die Hüfte gestemm­ten Händen auf den Pausen­pfiff. Zur zweiten Halbzeit nahm der Bundes­trai­ner zunächst keine Verän­de­rung vor. Während der Pause war zu sehen, wie er kurz mit Müller sprach.

Die DFB-Auswahl versuch­te weiter­hin, mehr Druck zu entwi­ckeln. Wieder Havertz kam zum Abschluss, den Gulacsi problem­los entschärf­te (52.). Dann kam Goretz­ka für den nach einem Zusam­men­prall offen­bar angeschla­ge­nen Ilkay Gündo­gan (58.). Der Bayern-Profi ordne­te sich offen­siv hinter Havertz, Sané und Gnabry ein, Löw wechsel­te das System zur Vierer­ket­te. Gefähr­lich wurde es aber erst vor dem Tor von Neuer. Ein Freistoß von Sallai knall­te an den deutschen Pfosten (62.), ehe sich die Ereig­nis­se überschlugen.

Zunächst erlös­te Havertz die deutschen Fans mit seinem Kopfball zum bejubel­ten Ausgleich nach Vorla­ge von Hummels. Gulacsi sah schlecht aus beim deutschen Tor. Löw brach­te in der folgen­den Unter­bre­chung Werner für den Torschüt­zen und Müller für Gnabry. Aber nur gut 15 Sekun­den nach dem Wieder­an­stoß der Ungarn schau­ten die deutschen Fans wieder entsetzt aufs Spiel­feld. Die schnel­le Kombi­na­ti­on der Ungarn schloss Schäfer gegen den heraus­ei­len­den Neuer zur erneu­ten Gäste­füh­rung ab. Goretz­ka sorgte kurz vor Schluss aber doch noch für grenzen­lo­sen deutschen Jubel.

Von Arne Richter, Jens Mende und Jan Mies, dpa