FRIEDRICHSHAFEN — Vor Weihnach­ten, in der norma­ler­wei­se umsatz­stärks­ten Zeit des Jahres, spitzt sich die wirtschaft­li­che Lage des Einzel­han­dels aufgrund der Corona-Pande­mie auch in der Fried­richs­ha­fe­ner Innen­stadt drama­tisch zu. An einem virtu­el­len runden Tisch disku­tier­te Martin Hahn MdL, Landtags­ab­ge­ord­ne­ter der Grünen, mit Mitglie­dern des Stadt­fo­rums und Thomas Goldschmidt, Geschäfts­füh­rer des Stadt­mar­ke­tings, am Donners­tag­abend (10.12.) über die Auswir­kun­gen der Pande­mie und Zukunfts­per­spek­ti­ven für den statio­nä­ren Einzel­han­del und die Häfler Innen­stadt. „Wir brauchen einen Feuer­lö­scher jetzt sofort und Konzep­te für die Heraus­for­de­run­gen in der Zukunft“, sagte Thomas Goldschmidt. Martin Hahn kündig­te an, mit dem Fried­richs­ha­fe­ner Handel im Gespräch bleiben zu wollen. Austau­schen möchte er sich gern auch auf Grund­la­ge der Ergeb­nis­se des Grünen Innen­stadt­gip­fels vom Novem­ber. Die Grüne Bundes­tags­frak­ti­on hatte zehn Forde­run­gen formu­liert, die auf Bundes­ebe­ne auch Handel und Gastro­no­mie unterstützen.

Einge­la­den hatte der Landtags­ab­ge­ord­ne­te der Grünen an seinen virtu­el­len runden Tisch neben Thomas Goldschmidt Stefan Zimmer, Inhaber von HEKA, Vorstands­mit­glied im Stadt­fo­rum Fried­richs­ha­fen und Leiter der Projekt­grup­pe Handel & Dienst­leis­tung im Stadt­form, der auch Vorsit­zen­der des IHK Handels­aus­schus­ses der IHK Boden­see Oberschwa­ben ist. Weite­rer Gast war Micha­el Gross­mann, Inhaber der Fritz Gross­mann KG, zu deren Sorti­ment vor allem Haushalts­wa­ren und Brenne­rei­be­darf gehören, und der ebenfalls Mitglied im IHK Handels­aus­schuss ist, sowie Werner Graetsch. Er betreibt zusam­men mit seiner Frau Optiker­ge­schäf­te in Markdorf, Fried­richs­ha­fen und Lindau. Unter den weite­ren Gästen, die sich einge­loggt hatten und haupt­säch­lich über den Chat mitdis­ku­tier­ten, waren Sieglin­de Ege, stell­ver­tre­ten­de Vorsit­zen­der des Stadt­fo­rums, Einzel­händ­ler Flori­an Sedlmei­er, der Grüne Gemein­de­rat Gerhard Leiprecht und auch die Bundes­tags­kan­di­da­tin der Grünen für den Boden­see­kreis, Maria Heubuch.

Für die Gäste stand fest: Die Lage in der Innen­stadt hat sich im Teil-Lockdown seit Novem­ber deutlich verschärft. Gaststät­ten sind geschlos­sen, die Kultur macht Zwangs­pau­se und der Weihnachts­markt findet nicht statt. Die Solida­ri­tät der Kundin­nen und Kunden schwin­de. Vor-Ort-Einkäu­fe liegen nicht mehr so im Trend wie noch zu Beginn der Pande­mie, sagten die Handels­ver­tre­ter. Micha­el Gross­mann sprach sich für Vor-Ort-Kaufgut­schei­ne aus, eine Idee der Grünen, die politisch aber nicht durch­setz­bar waren. Konsum-Gutschei­ne für Bürge­rin­nen und Bürger könnten dem statio­nä­ren Handel in der Krise helfen, vielleicht mehr als die verrin­ger­te Mehrwert­steu­er. Je länger die Pande­mie dauere, desto mehr nehmen Online-Einkäu­fe zu, stellen die Händler fest. Kosten­lo­se Liefe­run­gen und Retou­ren sieht der Einzel­han­del beson­ders kritisch. „Deutsch­land ist das einzi­ge Land in Europa, in dem der Kunde Ware porto­frei bekommt und ebenso zurück­schi­cken kann“, sagte Flori­an Sedlmeier.

Die Innen­stadt sei multi­funk­tio­nal, sie ist Treff­punkt und die Rettung der Innen­städ­te nach Auffas­sung der Gäste am virtu­el­len runden Tisch eine „gesell­schaft­li­che Aufga­be“. Einig waren sich die Vertre­ter der Fried­richs­ha­fe­ner Innen­stadt und der Grünen darin, dass die Innen­städ­te die Pande­mie überle­ben müssen, weil sie mehr als Einkaufs-Malls sind. Viele Händler haben in der Krise frische Ideen entwi­ckelt. Sie möchten auf neue hybri­de Konzep­te setzen und zum Beispiel zusätz­lich Café-Ecken einrich­ten. Die Unter­neh­mer wünschen sich, dass das unkom­pli­ziert möglich ist. Werner Graetsch, der im Frühjahr zeitwei­se Mitar­bei­ter in Kurzar­beit schicken musste, entwi­ckel­te in der Krise ebenfalls neue Ideen. In seinen Optiker­ge­schäf­ten bot er am Abend „priva­te shoppig“ an. Die Kunden konnten indivi­du­ell Termi­ne verein­ba­ren. Die Verkaufs­quo­te lag deutlich höher.

Vieles, was die Innen­stadt gerade bewegt, findet sich in den Vorschlä­gen der Grünen Bundes­tags­frak­ti­on zur Stärkung der Innen­städ­te wieder. Stefan Zimmer lobte auch deswe­gen den Grünen Innen­stadt­gip­fel aus „unter­neh­me­ri­scher Sicht“. Noch keine andere Partei habe sich so mit der Zukunft der Innen­städ­te beschäf­tigt, sagte er. Die Teilneh­me­rin­nen und Teilneh­mer des Gipfels haben Kultur, Gastro­no­mie und die gesell­schaft­li­che Bedeu­tung der Innen­städ­te als Orte der Begeg­nung ganzheit­lich betrach­tet und damit einen Nerv getrof­fen. Stefan Zimmer sagte, die Innen­stadt ist „Heimat“. Martin Hahn sprach davon, dass die Innen­stadt ein „Gesamt­kunst­werk“ sei.

Die Einzel­händ­ler haben am virtu­el­len runden Tisch der Politik klare Botschaf­ten gesen­det: Wenn der Einzel­han­del in der umsatz­stärks­ten Zeit des Jahres, die noch bis zum Dreikö­nigs­tag dauern würde, schlie­ßen muss, benöti­ge der Handel staat­li­che Hilfen, Entschä­di­gungs­zah­lung in Höhe von 75 Prozent des Netto­um­sat­zes. „Branchen wie die Parfü­me­rie machen 30 Prozent des Jahres­um­sat­zes im Dezem­ber“, sagte Stefan Zimmer. Der Unter­neh­mer, der selbst drei Modege­schäf­te betreibt, sprach von der größten Krise des Einzel­han­dels seit Bestehen der Bundes­re­pu­blik. Die Lage von Mode‑, Textil- und Schuh­ge­schäf­ten sei besorg­nis­er­re­gend. Hier gebe es Umsatz­ein­brü­che von bis zu 40 Prozent.

Die Schlie­ßung der Gastro­no­mie, von Kultur- und Freizeit­ein­rich­tun­gen wirkt sich auf die Frequenz in der Stadt verhee­rend aus. Vielen Betrie­ben fehlt die Liqui­di­tät. Noch sind die Läden mit Winter­wa­re gefüllt, die Frühjahrs­mo­de ist bestellt. Wenn die Rechnun­gen kommen, sind einige Unter­neh­men in ihrer Existenz gefähr­det. „Finan­zi­el­le Hilfe von Land und Bund sind nötig“, so Zimmer. Der Handel brauche Liqui­di­tät. Die Hilfen müssten unbüro­kra­tisch sein. Die Unter­stüt­zung greife bisher nicht, wenn der Umsatz­rück­gang weniger als 40 Prozent beträgt – die 40-Prozent-Hürde sei aber zu hoch. „Was hier kaputt zu gehen droht, ist auf Dauer verlo­ren“, warnte Zimmer. Wichtig ist aus Sicht des Handels auch die Erreich­bar­keit der Innen­stadt, gerade jetzt, wo viele den ÖPNV meiden.

Helfen würde vielen Einzel­händ­lern, wenn Verlust­rück­trä­ge auf mehre­re Jahre verteilt werden könnten. Dass für reine Online-Shops und statio­nä­ren Handel, der viel höhere Kosten hat, dersel­be Mehrwert­steu­er­satz gilt, ist aus Sicht der Fried­richs­ha­fe­ner Händler nicht zielfüh­rend. Dass auch Fried­richs­ha­fe­ner Händler vom Online-Boom profi­tie­ren können, zeigt Micha­el Gross­mann. Seine Umsät­ze im Online-Handel sind gewach­sen. Auftrit­te auf Social Media, wo er die junge Genera­ti­on erreicht, wirken. Aller­dings brauche es virtu­el­le Markt­plät­ze. Ein einzel­ner Online-Shop funktio­nie­re nicht. Als ungerecht pranger­ten die Fried­richs­ha­fe­ner Unter­neh­mer an, dass große Online-Konzer­ne in Deutsch­land kaum Steuern bezah­len. Stefan Zimmer wies darauf hin, dass es in anderen Ländern wie in Frank­reich oder Öster­reich bereits eine „Digital­steu­er“ gibt.

Thomas Goldschmidt sieht die Stärkung der Innen­stadt als langfris­ti­ges Projekt. Sieglin­de Ege fügte an: „Leute müssen einen Grund haben, in die Stadt zu gehen – Shoppen ist nicht mehr der Haupt­grund.“ Einzel­han­del hat gesell­schaft­li­che Bedeu­tung, er engagiert sich gesell­schaft­lich zum Beispiel durch Sponso­ring, ist Ausbil­dungs­stät­te und Arbeit­ge­ber, so der Geschäfts­füh­rer des Stadt­mar­ke­ting. Wenn die Innen­stadt verlo­ren gehe, geht Lebens­qua­li­tät für die Häfler, die Attrak­ti­vi­tät der Touris­mus Stadt am See und noch viel mehr verlo­ren, so Goldschmidt.

Die Grüne Bundes­tags­kan­di­da­tin Maria Heubuch stimm­te zu und sagte in Richtung des Handels: „Sie brauchen Hilfe jetzt und Konzep­te für die Zukunft.“ Es gehe nicht nur darum, dass die Innen­städ­te durch die Krise komme. Auch die hob die Multi­funk­tio­na­li­tät der Innen­städ­te hervor. Eine funktio­nie­ren­de Innen­stadt wirke sich auch darauf aus wie wir mitein­an­der umgehen, sie sei Teil unseres kultu­rel­len Lebens, sagte Maria Heubuch.