Sollen Eltern selbst entschei­den, wie es nach der Grund­schu­le für ihr Kind weiter­geht? Oder sollen sie, soweit es geht, der Empfeh­lung der Grund­schul­leh­rer folgen? Zwar lassen sich die überaus meisten Väter und Mütter bei der freiwil­li­gen Entschei­dung für einen Wechsel ihrer Kinder auf eine weiter­füh­ren­de Schule vom Eindruck der Lehrkräf­te leiten. Aber der Anteil derer, die das Heft selbst in die Hand nehmen und gegen die Empfeh­lung stimmen, nimmt langsam, aber stetig zu.So hatte etwa jedes zehnte Kind, das im vergan­ge­nen Sommer von der Grund­schu­le auf ein Gymna­si­um gewech­selt ist, dafür nicht die entspre­chen­de Empfeh­lung, wie das Kultus­mi­nis­te­ri­um am Diens­tag in Stutt­gart mitteil­te. Auch bei den Werkre­al- und Haupt­schu­len sowie bei den Realschu­len sind die Zahlen leicht gestie­gen. Sie dürften die Debat­te über eine verbind­li­che Grund­schulemp­feh­lung weite­ren Schwung geben.

Insge­samt wechsel­ten zum Schul­jahr 2022/2023 rund 92.073 Schüle­rin­nen und Schüler auf eine weiter­füh­ren­de Schule in Baden-Württem­berg. Von diesen Jungen und Mädchen und ihren Eltern hatten sich 45 Prozent für das Gymna­si­um entschie­den (plus 0,9 Prozent­punk­te). Es brach­ten aber nur 89,3 Prozent von ihnen auch die Empfeh­lung für diese weiter­füh­ren­de Schul­art mit (Vorjahr: 90,6 Prozent). Aus Sicht der Lehrkräf­te hätten 1,1 Prozent lieber die Werkre­al- oder Haupt­schu­le besuchen sollen (Vorjahr: 0,9), 9,6 Prozent die Realschu­le (Vorjahr: 8,5).

Die Empfeh­lung wird in Baden-Württem­berg zu Beginn des 2. Schul­halb­jah­res der 4. Klasse zusam­men mit den Halbjah­res­zeug­nis­sen ausge­ge­ben und orien­tiert sich in der Regel an dessen Noten. Die damali­ge grün-rote Landes­re­gie­rung hatte seiner­zeit entschie­den, dass die Empfeh­lung seit 2012/2013 nicht mehr verbind­lich ist. Die Eltern können sich seitdem über sie hinweg­set­zen und ihr Kind etwa auf ein Gymna­si­um schicken, obwohl es dafür keine Empfeh­lung hat.

Darun­ter leidet vor allem die Realschu­le. Nur gut die Hälfte aller Schüle­rin­nen und Schüler, die auf die Realschu­le wechsel­ten, hatten eine Empfeh­lung für diese Schul­art (53,5 Prozent). Bei der Werkre­al- und Haupt­schu­le liegt der Anteil bei 89,4 Prozent (89,9 Prozent).

Die Realschu­le habe eine Sandwich­po­si­ti­on zwischen der Haupt- und Werkre­al­schu­le einer­seits und dem Gymna­si­um anderer­seits, sagte Gerhard Brand vom Verband Bildung und Erzie­hung (VBE) am Diens­tag. «In der schuli­schen Praxis führt dies aller­dings zu einer erheb­li­chen Mehrbe­las­tung der Lehrkräf­te an der Realschu­le», kriti­siert der VBE-Bundes- und Landes­vor­sit­zen­de. «Sie müssen bis zu drei Leistungs­ni­veaus gleich­zei­tig unter­rich­ten und wenn Inklu­si­ons­kin­der in der Klasse sitzen, kommt sogar noch ein viertes dazu.» Eltern müssten besser beraten werden, vor allem, wenn ihr Wille von der Grund­schulemp­feh­lung abweicht.

Ähnlich sieht das Kultus­mi­nis­te­rin There­sa Schop­per (Grüne). Die Beratung der Eltern sei sehr wichtig. «Wir möchten dieses Beratungs­an­ge­bot beim Übergang auf die weiter­füh­ren­de Schule weiter verbes­sern, indem wir die wissen­schaft­lich fundier­ten Lernstands­er­he­bun­gen in der Grund­schu­le erwei­tern», sagte sie. Mit einer besse­ren Daten­grund­la­ge solle Eltern und Lehrkräf­ten bei der Entschei­dung für die weiter­füh­ren­de Schule gehol­fen werden.

Die FDP sieht sich in den jüngs­ten Zahlen bestä­tigt. Sie fordert eine verbind­li­che Empfeh­lung. Studi­en zeigten, dass diese sozial gerech­ter sei, sagte der bildungs­po­li­ti­sche Sprecher der FDP-Frakti­on, Timm Kern. Grün-Schwarz dürfe die Augen vor dieser Entwick­lung nicht verschlie­ßen. Die Libera­len wissen die Gymna­si­al- und Realschul­leh­rer hinter sich. SPD, Grüne und auch die CDU sind aber dagegen.

Und so liest die SPD die Statis­tik auch völlig anders: Die Zahlen seien weitge­hend stabil geblie­ben, sagte SPD-Schul­ex­per­tin Katrin Stein­hülb-Joos. «Was wir brauchen, sind mehr Unter­stüt­zungs­maß­nah­men für unsere Schulen, damit sie mit Hetero­ge­ni­tät noch besser umgehen können», sagte sie weiter. Dazu gehör­ten mehr indivi­du­el­le Förder­maß­nah­men, zusätz­li­che Poolstun­den und weite­re Fortbil­dungs­an­ge­bo­te für Lehrkräfte.

Das Gymna­si­um als Muster­schü­ler, die Haupt­schu­le in der letzten Reihe, das war keines­wegs immer so. Die Rangfol­ge bei der Schul­art­wahl hat sich im Laufe der vergan­ge­nen Jahre aber deutlich verän­dert. Noch zu Beginn des 21. Jahrhun­derts war die meist­ge­wähl­te Schul­art mit gut 34 Prozent die damali­ge Haupt­schu­le, das Gymna­si­um lag nach Angaben des Statis­ti­schen Landes­amts mit knapp 34 Prozent ein ganzes Stück unter­halb des heuti­gen Niveaus. Im vergan­ge­nen Jahr ist der Anteil der künfti­gen Werkre­al- und Haupt­schü­ler erneut gesun­gen. Im Schul­jahr 2022/2023 wechsel­ten nur noch 5,3 Prozent der Grund­schü­ler dorthin, 0,3 Prozent­punk­te weniger als im Vorjahr. «Damit erreicht die Übergangs­quo­te auf die Werkre­al-/Haupt­schu­len einen Tiefst­stand», hieß es im Minis­te­ri­um dazu.