STUTTGART (dpa/lsw) — Fördern und Fordern — so sollten Arbeits­lo­se wieder Jobs bekom­men. Nun werden die Hartz IV-Sanktio­nen vorerst aber ausge­setzt. Ein schwe­rer Fehler, sagt Innen­mi­nis­ter Strobl. Viele Arbeits­lo­se müssten mehr unter Druck gesetzt werden. Damit liegt er falsch, sagen andere.

Nach der weitge­hen­den Aufhe­bung der Hartz-IV-Sanktio­nen müssen arbeits­un­wil­li­ge Arbeits­lo­se aus Sicht des CDU-Landes­vor­sit­zen­den Thomas Strobl stärker unter Druck gesetzt werden, damit sie Joban­ge­bo­te anneh­men. Es müssten vielmehr Kürzun­gen angedroht und durch­ge­setzt werden, wenn wieder­holt angebo­te­ne Stellen nicht besetzt würden. Die Änderung der Sankti­ons­pra­xis für Hartz-IV-Empfän­ger durch die Berli­ner Ampel-Koali­ti­on sei ein «schwe­rer Fehler» gewesen, sagte Strobl.

Es gebe in Deutsch­land rund 1,9 Millio­nen offene Stellen und etwa 1,6 Millio­nen Hartz-IV-Empfän­ger, die arbei­ten könnten, sagte der CDU-Politi­ker. In Arbeits­agen­tu­ren heiße es aber, den Mitar­bei­tern seien die Hände gebun­den. «Es gibt da jene, die Termi­ne nicht wahrneh­men, sich nicht für Joban­ge­bo­te, Weiter­bil­dungs­maß­nah­men und derglei­chen mehr inter­es­sie­ren und so den Jobver­mitt­lern eine lange Nase zeigen», kriti­sier­te Strobl. «Und das erweckt den Anschein, dass es völlig egal ist, ob jemand, der arbei­ten kann, auch tatsäch­lich arbei­tet oder nicht.»

Der Grund­satz «Fördern und Fordern» müsse wieder gepflegt werden. «Wir müssen von einem Menschen, der Sozial­leis­tun­gen bezieht, auch etwas fordern.» Er müsse zum Beispiel zu bestimm­ten ausge­mach­ten Termi­nen auch erschei­nen. «Das ist ein schwe­rer Fehler in dieser Zeit, das anders zu akzep­tie­ren.» Im Grunde genom­men gebe es bereits heute ein bedin­gungs­lo­ses Grundeinkommen.

Die Diako­nie Württem­berg wider­sprach dem CDU-Landes­chef. «Unsere Erfah­rung ist, dass arbeits­lo­se Menschen in den meisten Fällen auch arbei­ten wollen, dass sie unter ihrer Situa­ti­on leiden», sagte die Diako­nie-Vorsit­zen­de Annet­te Noller der dpa. «Menschen wollen ihren Beitrag leisten, sie wollen teilha­ben. Wir müssen sie beglei­ten und fördern.» Sie könne sich Sanktio­nen höchs­tens als behut­sam angewand­tes Mittel vorstel­len, um Menschen einen Anschub zu geben.

Arbeits­lo­se seien aber oft auch schwer zu vermit­teln, weil sie Angehö­ri­ge pflegen oder Kinder erzie­hen müssten — oder aufgrund persön­li­cher Problem­la­gen wie einer Erkran­kung. «Offene Stellen und die Zahl arbeits­lo­ser Hartz-IV-Empfän­ger kann man nicht 1:1 verglei­chen», sagte Noller. «Außer­dem müssen Schuhe auch zu den Füßen passen. Ein Lager­ar­bei­ter kann nicht einfach zur Pflege­kraft werden.» Noller warnte vor einem «Drehtür­ef­fekt». «Unter dem Sankti­ons­druck nehmen viele Menschen eine Arbeit auf, verlas­sen sie aber schnell wieder, weil die innere Akzep­tanz fehlt oder sie überfor­dert sind.»

Auch Strobl räumte ein, dass sich viele Hartz-IV-Empfän­ger bemüh­ten, Arbeit zu finden. «Aber hinsicht­lich der anderen, der «schwar­zen Schafe», frage ich: Ist das gerecht gegen­über dem Pfleger oder der Polizis­tin oder dem Lkw-Fahrer, die durch ihre Arbeit und ihre Steuern dieje­ni­gen finan­zie­ren, die sich eben dafür entschei­den, lieber auf der Couch liegen zu bleiben als sich um eine Beschäf­ti­gung zu bemühen?» Wer sich nicht bemühe, Termi­ne nicht wahrneh­me oder sich nicht für Fortbil­dung inter­es­sie­re, dem müssten Leistun­gen gekürzt werden, forder­te Strobl, der auch baden-württem­ber­gi­scher Innen­mi­nis­ter ist. «Nicht sofort, nicht unmensch­lich, aber in einem sorgfäl­tig ausdif­fe­ren­zier­ten, abgewo­ge­nen System.»

Über die Sanktio­nen wird gestrit­ten, seit Hartz IV im Jahr 2005 einge­führt wurde. Die damali­ge Bundes­re­gie­rung wollte Langzeit­ar­beits­lo­se «fördern und fordern». Nach einem Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts von 2019 ist nun entschie­den worden, Sanktio­nen für ein Jahr auszu­set­zen. Ein Grund für das Morato­ri­um ist das für 2023 geplan­te Bürger­geld anstel­le des heuti­gen Hartz-IV-Systems, das auch mit einer Neure­ge­lung bei den Sanktio­nen verbun­den sein soll.

Ausge­setzt wird für ein Jahr die Möglich­keit, das Arbeits­lo­sen­geld II bei einer Pflicht­ver­let­zung um 30 Prozent zu mindern. Das gilt etwa, wenn eine zumut­ba­re Arbeit nicht angenom­men wird. Bei wieder­hol­ten Melde­ver­säum­nis­se oder Termin­ver­let­zun­gen drohen aller­dings auch künftig Leistungs­kür­zun­gen von bis zu 10 Prozent des Regel­sat­zes. Wenn im nächs­ten Jahr das neue Bürger­geld kommt, sollen Kürzun­gen um 30 Prozent wieder möglich sein.

Zuvor waren die Zahlun­gen an gewis­se Pflich­ten geknüpft. So mussten sich Hartz-IV-Empfän­ger zum Beispiel regel­mä­ßig bei den Jobcen­tern melden, zumut­ba­re Maßnah­men und Jobs anneh­men oder länge­re Abwesen­hei­ten melden. Wer sich nicht an die Regeln hielt, musste mit zum Teil drasti­schen Kürzun­gen seiner Bezüge rechnen.

Nach Angaben der Bundes­agen­tur für Arbeit haben die Jobcen­ter in Baden-Württem­berg im vergan­ge­nen Jahr 14 690 Sanktio­nen gegen Hartz-IV-Empfän­ger festge­stellt, betrof­fen davon waren 10 119 Menschen. Aller­dings ist die Bilanz noch stark von der Pande­mie abhän­gig. Zum Vergleich: 2019 wurden 50 481 Sanktio­nen festge­stellt, 26 042 Menschen wurden sanktioniert.

«Das betrifft eben nur einen sehr kleinen Teil von Perso­nen, bei denen man eine Verhal­tens­än­de­rung bezwe­cken möchte, weil sie eben Arbeits­an­ge­bo­te sonst nicht anneh­men würden», sagte Joachim Wolff vom Insti­tut für Arbeits­markt- und Berufs­for­schung (IAB) in Nürnberg. Es gehe zum anderen um Menschen, die große Schwie­rig­kei­ten hätten, länger­fris­tig und stabil in Arbeit zu kommen. «Das ist keine hetero­ge­ne Gruppe», sagte Wolff.