LEIPZIG/BERLIN (dpa) — Rechte und Linke trommel­ten für einen «heißen Herbst» der Protes­te — vor allem in Ostdeutsch­land. Doch seit einigen Wochen kommen weniger Leute zu den am Montag­de­mos. Besänf­ti­gen die staat­li­chen Hilfspakete?

Vorläu­fi­ger Höhepunkt war der Tag der Deutschen Einheit. Am 3. Oktober gingen allein in Ostdeutsch­land mehr als 100.000 Menschen gegen hohe Energie­prei­se, Infla­ti­on und die Krisen­po­li­tik der Bundes­re­gie­rung auf die Straße. Seitdem scheint dem von rechts und links angefach­ten «heißen Herbst» langsam die Puste auszugehen.

Zwar werden wohl auch an diesem Montag wieder an vielen Orten Menschen protes­tie­ren. Doch gehen die Teilneh­mer­zah­len zurück. In Schwe­rin wurden montäg­li­che Demos ganz abgesagt, mangels Masse.

Sicher ist: Die von Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock befürch­te­ten «Volks­auf­stän­de» sind bisher ausge­blie­ben. Nach der Ankün­di­gung des milli­ar­den­schwe­ren «Doppel­wumms» gegen hohe Gas- und Strom­prei­se scheint die Stimmung im Land etwas ruhiger. Wie geht es weiter mit der Protest­wel­le? Das hänge unter anderem davon ab, ob die Entlas­tung bei Bürgern mit wenig Geld ankom­me, sagt der sächsi­sche Verfas­sungs­schutz­prä­si­dent Dirk-Martin Chris­ti­an der Deutschen Presse-Agentur. Auch der Greifs­wal­der Polito­lo­ge Marcel Lewan­dowsky meint: «Für eine Einschät­zung ist es einfach zu früh.»

«Das dicke Ende kommt zum Schluss»

Unter dem Stich­wort «heißer Herbst» hatten sowohl die AfD als auch die Linke mobili­siert, wenn auch nicht gemein­sam. Vor allem in Berlin und ostdeut­schen Städten wie Leipzig, Magde­burg, Gera oder Plauen fand das Wider­hall. Beide Seiten sprechen von Erfol­gen. «Unter dem Motto unserer Kampa­gne ‘Unser Land zuerst!’ folgten beispiels­wei­se rund 10.000 Menschen aus ganz Deutsch­land unserem Aufruf, in Berlin gegen die desas­trö­se Politik der Ampel-Koali­ti­on zu demons­trie­ren», resümiert AfD-Bundes­spre­cher Tino Chrup­al­la. Seine Kolle­gin Alice Weidel ist sicher, die AfD-Forde­run­gen setzten die «Ampel-Koali­ti­on unter Druck, im Sinne der deutschen Bürger zu handeln».

Auch Linken­chef Martin Schir­de­wan sagt: «Unser Druck hat gewirkt — die Bundes­re­gie­rung hat sich bewegen müssen.» Einige Forde­run­gen der Linken seien im Entlas­tungs­pro­gramm der Ampel aufge­grif­fen worden, etwa Gas- und Strom­preis­de­ckel. «Aber ob das am Ende reicht, damit die Leute gut durch den Winter kommen, ist offen. Das dicke Ende kommt zum Schluss.» Die angekün­dig­ten Hilfs­pa­ke­te seien eine «Beruhi­gungs­pil­le», die womög­lich nicht ewig wirke, meint Schirdewan.

Gerade schei­nen viele die Zukunft aber etwas weniger düster zu sehen. «Ich glaube tatsäch­lich, dass die Entlas­tungs­maß­nah­men und die vollen Speicher die Sorgen der Menschen etwas reduziert haben», sagt Thürin­gens Innen­mi­nis­ter Georg Maier (SPD). Der sächsi­sche SPD-Chef Henning Homann lobt ebenfalls: «Die politi­sche Debat­te hat sich durch das Handeln der Bundes­re­gie­rung entspannt.» Beide erwar­ten dennoch, dass die Rechte weiter zu Protes­ten ansta­cheln wird. «Diese Attacken können wir nicht abstel­len — egal wie gut unsere Politik ist», meint Homann.

Zwei Ansät­ze des Protests

Es gebe zwei unter­schied­li­che Ansät­ze des Protests, analy­siert Politik­wis­sen­schaft­ler Lewan­dowsky. «Einer ist organi­siert durch linke Gruppen und Gewerk­schaf­ten und richtet sich konkret auf die Proble­ma­tik der hohen Lebens­hal­tungs­kos­ten», erläu­tert der Forscher. «Die andere Schie­ne geht nur vorder­grün­dig in diesel­be Richtung, nämlich gegen hohe Energie­prei­se. Doch sind da auch prorus­si­sche, rechts­po­pu­lis­ti­sche und verschwö­rungs­ideo­lo­gi­sche Unter­tö­ne, wie wir sie seit den Corona-Protes­ten ab 2020 kennen. Diese Protes­te nutzen eigent­lich nur einen neuen Anlass, um dassel­be zu vertreten.»

Mit anderen Worten: Einigen Gruppen scheint es fast egal, woran der Protest sich gerade aufhängt und wie die Politik reagiert. Thürin­gens Verfas­sungs­schutz­prä­si­dent Stephan Kramer beschrieb es bei einer Berli­ner Konfe­renz am Freitag so: «Während es am Anfang um die Flücht­lings­fra­gen ging 2015, Euro eine Rolle spiel­te, also Währungs­fra­gen, kam dann ganz schnell die Frage: Wie sieht es jetzt aus mit der Pande­mie? Wir haben dann ein bisschen Wetten laufen gehabt, dass als nächs­tes die ‘Klima­dik­ta­tur’ kommen würde. Da konnte noch niemand ahnen, dass auf einmal der russi­sche Angriffs­krieg vor der Tür steht. Aber den hat man sich auch ganz schnell unter den Nagel geris­sen und instrumentalisiert.»

Sein sächsi­scher Kolle­ge Chris­ti­an sieht das ähnlich. «Es gehört zur langfris­ti­gen Strate­gie der Rechts­extre­mis­ten, mit ihren Themen in der Mitte der Gesell­schaft anschluss­fä­hig zu werden und damit eine Entgren­zung zu errei­chen», erklärt der Landes­ver­fas­sungs­schutz­chef der dpa. Auffal­lend sei, dass Gruppen wie die rechts­extre­men Freien Sachsen sich inzwi­schen wieder mehr auf die Agita­ti­on gegen Geflüch­te­te konzen­trier­ten — womög­lich weil «die Mobili­sie­rungs­fä­hig­keit bei den Themen Energie­kri­se, Ukrai­ne­kon­flikt und Infla­ti­on zu stagnie­ren scheint». Das Protest­ge­sche­hen in Sachsen habe «zumin­dest vorläu­fig ein Plateau erreicht».

Trotz­dem werden die Aktio­nen wohl nicht aufhö­ren, erwar­tet der Leipzi­ger Kultur­so­zio­lo­ge Alexan­der Leist­ner. «Wir haben eine ähnli­che Situa­ti­on wie schon bei den konti­nu­ier­li­chen Corona-Protest­sze­nen: Ein harter Kern an Demons­trie­ren­den bleibt sehr regel­mä­ßig auf der Straße.» Das sei unabhän­gig von der Tages­po­li­tik und der aktuel­len Preisentwicklung.

Könnte aus dem eher nicht so «heißen Herbst» doch noch ein «Wutwin­ter» werden? Leist­ner schließt das nicht aus. Zum einen würden Kosten­be­las­tun­gen der Bürger erst verzö­gert sicht­bar. Zum anderen hätten Protes­te oft eine Eigen­dy­na­mik. Auch der Verlauf des Kriegs in der Ukrai­ne und mögli­che neue Flucht­be­we­gun­gen könnten eine Rolle spielen.

Sachsens Verfas­sungs­schutz­chef Chris­ti­an sagt es so: «Bei einer Zuspit­zung der geopo­li­ti­schen und wirtschaft­li­chen Lage muss mit einer Polari­sie­rung und Radika­li­sie­rung des Protest­ge­sche­hens gerech­net werden. Extre­mis­ten werden in einer solchen Situa­ti­on nichts unver­sucht lassen, um mit ihren Desin­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen und Narra­ti­ven apoka­lyp­ti­sche Endsze­na­ri­en heraufzubeschwören.»

Von Birgit Zimmer­mann, Jörg Schurig und Verena Schmitt-Rosch­mann, dpa