WASHINGTON (dpa) — Die erste Auslands­rei­se seit Russlands Einmarsch führt den ukrai­ni­schen Präsi­den­ten zum wichtigs­ten Verbün­de­ten. Er dankt den USA — und fordert Panzer und Jets.

Es ist nicht weniger als ein Helden­emp­fang im US-Kongress — für das Oberhaupt eines anderen Landes. Zwei Minuten und 19 Sekun­den feiern Abgeord­ne­te beider Parla­ments­kam­mern den ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Wolodym­yr Selen­skyj gestern Abend (Ortszeit) mit Applaus vor einer Rede, die Geschich­te schrei­ben dürfte. Es geht um Wider­stand, Freiheit und den militä­ri­schen Sieg über Russland.

«Trotz aller Widrig­kei­ten und Unter­gangs­sze­na­ri­en ist die Ukrai­ne nicht gefal­len», ruft Selen­skyj den Abgeord­ne­ten bei seiner ersten Auslands­rei­se in Kriegs­zei­ten unter immer wieder aufbran­den­dem Jubel entge­gen. «Die russi­sche Tyran­nei hat die Kontrol­le über uns verlo­ren». Auch heute tritt er — ganz Kriegs­prä­si­dent — in einem olivgrü­nen Militär­pull­over mit dem Emblem des Oberbe­fehls­ha­bers auf. Er macht klar, dass er mehr Waffen braucht, während sich eine neue Phase im bald einjäh­ri­gen Ukrai­ne-Krieg abzeichnet.

Seit Selen­sky­js letztem Besuch in Washing­ton sind keine andert­halb Jahre vergan­gen — aber für den ukrai­ni­schen Präsi­den­ten dürfte es sich wie ein halbes Leben anfüh­len. Im Sommer 2021 war er zuletzt hier, damals noch schick im Anzug. Es ging bei dem Treffen mit US-Präsi­dent Joe Biden auch um die Furcht vor einem russi­schen Angriff. Die Befürch­tun­gen von damals haben sich bewahrheitet.

Ukrai­ni­sche Offen­si­ve erwartet

Der jüngs­te Besuch Selen­sky­js bei seinem wichtigs­ten Unter­stüt­zer kurz vor Weihnach­ten kommt zu einer entschei­den­den Zeit. Mit der Aufrüs­tung beider Seiten könnte es im bald einjäh­ri­gen Krieg für die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te schwie­ri­ger werden, im Osten ihres Landes weiter gegen die russi­schen Solda­ten vorzu­rü­cken. Diplo­ma­ten sagten zuletzt aber, sie erwar­te­ten eine ukrai­ni­sche Offen­si­ve im Winter.

Selen­skyj, der kürzlich vom «Time»-Magazin zur «Person of the Year» gewählt wurde, steht dabei symbo­lisch für den Kampf der Ukrai­ner um ihre Freiheit. In den vergan­ge­nen zehn Monaten schaff­ten die Streit­kräf­te es, die zuvor übermäch­tig erschei­nen­de russi­sche Armee nach ihrem Einmarsch zunächst bei Kiew und dann im Osten des Landes zurück­zu­schla­gen. Ohne die Ameri­ka­ner aber, das betont Selen­skyj im Weißen Haus neben Präsi­dent Biden, wäre dies unmög­lich gewesen.

Selen­skyj bittet nicht um Almosen

Doch vor dem Kongress macht Selen­skyj klar, dass es sich bei den knapp 22 Milli­ar­den Dollar an US-Militär­hil­fe nicht um Almosen handle. Kiew sei das Bollwerk gegen Russland — es sei nur eine Frage der Zeit bis Russland auch Verbün­de­te der USA angrei­fe, warnte der Ukrai­ner. Waffen, Training und Geheim­dienst­in­for­ma­tio­nen stärk­ten Selen­sky­js Kämpfer auf allen Ebenen. Sie sind weiter angewie­sen auf die US-Hilfe. Vor allem deshalb ist der ukrai­ni­sche Präsi­dent erstmals seit Kriegs­be­ginn ins Ausland geflogen.

Selen­skyj wird das Zitat zugeschrie­ben, er «brauche Muniti­on, keine Mitfahr­ge­le­gen­heit». Das war zu Beginn des Krieges, als die USA ihn aus Kiew in Sicher­heit bringen wollten, der 44-Jähri­ge sich aber weiger­te und den Wider­stand antrieb. Zehn Monate später wird er dafür auch in den USA als Held gefei­ert — und für die Visite in Washing­ton nahm er dann tatsäch­lich eine US-Regierungsmaschine.

Appell an die Republikaner

Im Licht der verän­der­ten Macht­ver­hält­nis­se nach den Zwischen­wah­len ist seine Rede vor den Abgeord­ne­ten beson­ders wichtig. Dort werden die Republi­ka­ner bald mehr Macht haben — auch ihre Unter­stüt­zung braucht der ehema­li­ge Schau­spie­ler in den kommen­den Monaten und vielleicht Jahren. Bei der Rede gestern Abend, in der Selen­skyj das Schick­sal der Ukrai­ner histo­risch immer wieder mit dem der Ameri­ka­ner vergleicht, schei­nen die Ränge der Republi­ka­ner dabei etwas leerer als die der Demokraten.

Von seinem Washing­ton-Besuch aber wird Selen­skyj mit großen ameri­ka­ni­schen Zusagen zurück­kom­men: Die USA wollen als Teil eines neuen Militär­hil­fe-Pakets in Höhe von 1,85 Milli­ar­den US-Dollar Patri­ot-Luftab­wehr­sys­te­me in die Ukrai­ne schicken. Das könnte auch den Druck auf Staaten wie Deutsch­land erhöhen, bei den Waffen­lie­fe­run­gen aufzustocken.

Biden als felsen­fes­ter Verbündeter

Zudem gibt sich Biden, der Selen­skyj zur Begrü­ßung noch väter­lich die Schul­ter getät­schelt hatte, als felsen­fes­ter Verbün­de­ter ohne Vorbe­din­gun­gen: «Sie werden niemals allei­ne daste­hen», sicher­te er zu. «Das ameri­ka­ni­sche Volk hat Sie bei jedem Schritt beglei­tet, und wir werden an Ihrer Seite bleiben, so lange es nötig ist.»

Aus russi­scher Sicht verschärft sich die Lage im Krieg durch die Liefe­rung der Patri­ots an die Ukrai­ne deutlich. Schon lange sieht Kreml­chef Wladi­mir Putin seine Invasi­on in die Ukrai­ne auch als einen Krieg mit dem Westen und die Waffen­sys­te­me der Nato-Staaten. Der «kollek­ti­ve Westen» habe es auf eine Vernich­tung Russlands abgese­hen und nutze die Ukrai­ne als Instru­ment, behaup­te­te er mehrfach.

Putin will um jeden Preis gewinnen

Wegen der Patri­ot-Liefe­rung befürch­tet Moskau, dass die Angrif­fe von ukrai­ni­scher Seite auf russi­sches Staats­ge­biet durch diese Waffen mit höherer Reich­wei­te noch einmal zuneh­men. Russland hatte den USA zuletzt wieder­holt vorge­wor­fen, inzwi­schen selbst Kriegs­par­tei zu sein. Auch die Patri­ots würden deshalb nun zu «legiti­men» Zielen für die russi­schen Streitkräfte.

Putin hatte nur kurz vor Selen­ky­js Auftrit­ten in Washing­ton bei einer großen Sitzung im Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um gestern mit Nachdruck erklärt, dass er den Krieg um jeden Preis gewin­nen will. Dazu soll die Armee besser ausge­stat­tet und die Zahl der Solda­ten erhöht werden. Dafür gebe es keine finan­zi­el­len Grenzen, beton­te er. Moskau und Kiew wollen kurz vor dem Jahres­wech­sel noch einmal Stärke zeigen und setzen dabei auf große Bühnen.

Derzeit kein Frieden in Sicht

Vor allem aber nutzte Putin die Versamm­lung, um einmal mehr auf die Nukle­ar­waf­fen der Atommacht hinzu­wei­sen. So sollten etwa bald die neuen, mit mehre­ren Atomspreng­köp­fen bestück­ba­ren Inter­kon­ti­nen­tal­ra­ke­ten vom Typ Sarmat in Dienst gestellt werden, sagte der 70-Jähri­ge. Die annek­tier­ten ukrai­ni­schen Gebie­te werde Russland unter allen Umstän­den «vertei­di­gen».

Auf Frieden stehen die Zeichen in Washing­ton und Moskau defini­tiv nicht — auch wenn Selen­skyj einen globa­len Gipfel in Aussicht stellt. Er betont aber, es werde «keine Kompro­mis­se» auf dem Weg zum Frieden geben, wie brutal die russi­schen Angrif­fe auch werden sollten. «Wir werden Weihnach­ten feiern», schließt er seine Rede vor dem Kongress, «auch wenn es keinen Strom gibt. Das Licht unseres Glaubens an uns selbst wird nicht erlöschen.»