Fans, Spieler, Trainer, Repor­ter: An diesem großen Tag des marok­ka­ni­schen Fußballs verschwam­men die Grenzen ins Unkennt­li­che. Die Spieler kletter­ten auf die Tribü­ne, um ihre Eltern zu herzen. Einige Journa­lis­ten stell­ten ihre Fragen in rot-grünen Natio­nal­tri­kots. Im Al-Thuma­ma Stadi­on von Doha war an diesem Donners­tag alles möglich.

Durch ein 2:1 (2:1) gegen Kanada hat Marok­ko bei einer Fußball-Weltmeis­ter­schaft zum ersten Mal seit 36 Jahren wieder die K.o.-Runde erreicht. 1986 in Mexiko verlo­ren die Afrika­ner im Achtel­fi­na­le mit 0:1 gegen Deutsch­land — Lothar Matthä­us schoss damals erst in der 87. Minute das entschei­den­de Tor. Diese Konstel­la­ti­on ist auch am Diens­tag bei der WM in Katar wieder möglich.

«Es wird noch viel von uns kommen»

«Wir sind nicht hierher­ge­kom­men, um nur mitzu­spie­len oder zu sagen: Wir hätten es fast in die K.o.-Runde geschafft», sagte Trainer Walid Regra­gui. «Warum sollten wir nicht davon träumen, den Pokal in die Höhe zu stemmen? Es wird noch viel von uns kommen. Wir sind eine schwer zu schla­gen­de Mannschaft.»

Ein Unent­schie­den hätte seinem Team vor 43.102 Zuschau­ern bereits zum Weiter­kom­men gereicht. Doch die Tore von Hakim Ziyech (4. Minute) und Youssef En-Nesyri (23.) machten die Marok­ka­ner schnell unabhän­gig vom Verlauf des zweiten Spiels zwischen Kroati­en und Belgi­en (0:0).

Kanada kam durch ein Eigen­tor von Nayef Aguerd (40.) zwar noch einmal heran und dominier­te auch die zweite Halbzeit. Doch der abgeschla­ge­ne Gruppen­letz­te war abgese­hen von einem Latten­kopf­ball von Atiba Hutchin­son (72.) zu harmlos, um die marok­ka­ni­sche Party noch einmal zu crashen.

Diese passi­ven und fahri­gen 45 Minuten passten nicht ganz in das Bild, dass Regra­gu­is Team bei dieser WM schon gegen Kroati­en (0:0), Belgi­en (2:0) und in der ersten Hälfte des Kanada-Spiels abgaben. Denn die Marok­ka­ner bringen alles mit, was sie für jeden Achtel­fi­nal-Gegner zumin­dest zu einem sehr unange­neh­men Gegner werden lassen.

Viel indivi­du­el­le Klasse

Sie haben die indivi­du­el­le Klasse eines Ziyech (FC Chelsea), En-Nesyri (FC Sevil­la), Achraf Hakimi (Paris Saint-Germain) oder eines Noussair Mazraoui vom FC Bayern München. Und sie verbin­den das mit einer takti­schen Diszi­plin und Stabi­li­tät, an der sich schon der WM-Zweite Kroati­en und der WM-Dritte Belgi­en die Zähne ausbis­sen. Unter­stützt wird das Team in Katar von rund 30.000 Fans. Die Spiele der marok­ka­ni­schen Mannschaft gehören zu den lautes­ten und stimmungs­volls­ten dieser WM.

«Wir haben heute Geschich­te geschrie­ben», sagte Ziyech. «Ich bin stolz auf das, was wir heute geschafft haben.» Auch Kanadas Trainer John Herdman sagte: «Das ist ein Top-Team. Ihre Spieler spielen bei den besten europäi­schen Clubs.» Vor allem der Ex-Dortmun­der Hakimi sei «ein Krieger».

Die Marok­ka­ner sind tatsäch­lich abgehär­tet, denn ihr Weg in dieses WM-Achtel­fi­na­le war sehr turbu­lent. Die Quali­fi­ka­ti­on bestritt das Team noch unter dem erfah­re­nen Bosni­er Vahid Halil­hod­zic, der in seiner langen Trainer­kar­rie­re bereits Japan, Algeri­en und die Elfen­bein­küs­te zu einer Weltmeis­ter­schaft geführt hatte.

Doch der 70-Jähri­ge warf Stars wie Ziyech und Mazraoui aus diszi­pli­na­ri­schen Gründen aus dem Kader und ließ sich dadurch auf einen Macht­kampf ein, den er nur verlie­ren konnte. Halil­hod­zic wurde noch vor dem Turnier gefeu­ert und kündig­te an, aus Frust kein einzi­ges WM-Spiel zu sehen. «Niemals! Das wäre zu schmerz­haft für mich», sagte er — und verpass­te dadurch viel.

Seinen Nachfol­ger Regra­gui warfen die Spieler nach dem Sieg gegen Kanada im Kollek­tiv in die Luft. «Wir haben mit unseren Herzen und für unser Land gespielt», sagte der Abwehr­spie­ler Romain Saiss von Besik­tas Istan­bul. «Und wir werden an diesem Punkt nicht stoppen. Wir wollen zeigen, dass wir es noch besser können.»

von Tom Bachmann, Sebas­ti­an Stiekel und Jan Kuhlmann, dpa