GENF (dpa) — Eine HIV-Diagno­se ist immer noch ein Schock für viele Betrof­fe­ne. Dank Medika­men­ten ist mittler­wei­le zwar ein halbwegs norma­les Leben möglich. Aber die Angst vor Ausgren­zung macht vielen das Leben schwer.

Wenn Besuch im Haus ist, die Medika­men­te verste­cken. Bei Kolle­gen wegen des regel­mä­ßi­gen Kontroll­be­suchs bei der Ärztin Ausre­den erfin­den. Auf dem Parkplatz vor der HIV-Klinik schau­en, dass einen niemand sieht. Das ist das Leben von Anja, die 2014 erfuhr, dass sie HIV-positiv ist.

«Es ist wie ein Doppel­le­ben», sagt die 41-jähri­ge der Deutschen Presse-Agentur. Vor genau 40 Jahren, am 5. Juni 1981, berich­te­te die US-Gesund­heits­be­hör­de CDC erstmals über die myste­riö­se neue Krank­heit. An der Diskri­mi­nie­rung, mit der viele Betrof­fe­ne danach konfron­tiert waren, hat sich zu wenig geändert.

Angst vor negati­ven Reaktionen

Die Mutter von zwei kleinen Kindern aus Hessen nennt sich Anja. Nur ihr Mann, der ebenfalls HIV-positiv ist, weiß von ihrer Infek­ti­on. Sie möchte anonym bleiben. Sie hat Angst vor Reaktio­nen, wie neulich im Kranken­haus, als sie mit einem Knochen­bruch per Rettungs­wa­gen einge­lie­fert wurde und der Sanitä­ter sie in der Notauf­nah­me, wo sie die Infek­ti­on angab, anschrie, was ihr einfal­le, das hätte sie sofort sagen müssen. Muss sie nicht, weiß Anja. Wenn die HIV-Infek­ti­on gut behan­delt wird, ist die Viren­last so tief, dass sie nicht mehr nachweis­bar ist. So können HIV-Positi­ve andere auch nicht anstecken.

Nach einer neuen Umfra­ge der Deutschen Aidshil­fe erlebt gut die Hälfte der HIV-Positi­ven immer noch Diskri­mi­nie­rung. Knapp 100.000 Menschen lebten Ende 2019 in Deutsch­land mit HIV/Aids, knapp 11.000 davon wissen nach Schät­zun­gen des Robert-Koch-Insti­tuts davon nicht. Wenn eine HIV-Infek­ti­on nicht behan­delt wird, schwächt das Virus das Immun­sys­tem so stark, dass lebens­ge­fähr­li­che Krank­hei­ten auftre­ten. Man spricht dann von Aids (Erwor­be­nes Immunschwäche-Syndrom).

Krank­heit wird oft verschwiegen

«Menschen, die mit HIV leben, sind jeden Tag mit diesem Problem konfron­tiert: «Sag ich’s dem Arbeit­ge­ber, den Freun­den, verste­cke ich die Medika­men­te vor den Kindern? Was, wenn ich jemand kennen­ler­ne, soll ich es sofort sagen?»» sagt Annet­te Haberl von der Deutschen Aids-Gesell­schaft. Auch im medizi­ni­schen Bereich gebe es nach wie vor Vorur­tei­le. «Die Suche nach einem Zahnarzt kann schwie­rig sein. Und es gibt immer die Angst vor Ableh­nung, die die Menschen begleitet.»

Anja denkt manch­mal darüber nach, offen über ihre Infek­ti­on zu sprechen. «Aber wenn man behan­delt wird, als ob man die Pest hätte? Wenn die Kinder dann wie Aussät­zi­ge behan­delt werden? Für einen der mit solchen Ängsten kämpfen muss, ist das schwer», sagt sie. «Man ist psychisch so labil, dass das eine Zumutung wäre.» Trotz der guten Medika­men­te schwin­ge neben aller Angst ja auch noch immer die Sorge mit, dass die Krank­heit ausbre­chen könnte.

Tabui­sie­rung erschwert HIV-Bekämpfung

«Stigma und Diskri­mi­nie­rung sind eine der Ursachen dafür, dass die HIV-Pande­mie weltweit nach 40 Jahren noch nicht zuende ist», sagt der Virolo­ge und Aids-Forscher Hendrik Streeck, der sich zuletzt als Corona-Exper­te einen Namen gemacht hatte, der dpa. Er spricht von einem trauri­gen Meilen­stein. «Wir könnten die Pande­mie viel besser eindäm­men, als es der Fall ist.» In vielen Ländern müssten Menschen, die mit HIV infiziert sind oder ein erhöh­tes Anste­ckungs­ri­si­ko haben, im Verbor­ge­nen leben.

Viele ließen sich aus Angst und Sorge vor den Folgen nicht testen, oder es gebe kaum Testmög­lich­kei­ten. «So gibt es derzeit noch zu viele Infizier­te, die das Virus weiter­ge­ben können.» In Osteu­ro­pa und in Ländern wie Ägypten, Südsu­dan und Pakistan oder in Westafri­ka steige die Zahl der Neuin­fek­tio­nen weiter­hin an. Beson­de­re Risiko­fak­to­ren sind ungeschütz­ter Geschlechts­ver­kehr und das Teilen von Spritz­be­steck beim Drogenkonsum.

Corona könnte HIV-Ausbrei­tung begünstigen

Die Folgen der Corona-Pande­mie auf die HIV-Infek­tio­nen seien noch nicht abzuse­hen, sagte Streeck. Vieler­orts hätten sich weniger Menschen testen lassen, und viele hätten ihre Medika­men­te nicht mehr regel­mä­ßig bekom­men. Das könne zu vielen Neuin­fek­tio­nen führen, und viele Menschen könnten ernst­haft erkranken.

Wie kommt es, dass Impfstoff gegen das Corona­vi­rus so schnell entwi­ckel­te wurde, gegen das HI-Virus aber in 40 Jahren nicht? Es gehe um verschie­de­ne Viren­ar­ten, sagt der Virolo­ge Josef Eberle vom Max von Petten­ko­fer-Insti­tut für Hygie­ne und Medizi­ni­sche Mikro­bio­lo­gie in München.

Das Corona­vi­rus ändere sich zudem relativ langsam, das HI-Virus dagegen sehr schnell. «Schon in vier bis sechs Wochen entwi­ckeln sich in einem einzi­gen HIV-Infizier­ten so viele Varian­ten wie beim Corona­vi­rus weltweit nicht in einem ganzen Jahr», sagt Eberle. Zum anderen könne man beim Corona­vi­rus Antikör­per wie Sticker auf den Schlüs­sel des Virus für die Zelle «kleben», was das Eindrin­gen verhin­dert. «Bei HIV sind die Oberflä­chen­pro­te­ine auf den Viren dagegen gut versteckt», sagt Eberle.

Medika­men­te können HIV nicht heilen

Wenn HIV einmal im Körper sei, bekom­me man es nicht mehr raus — auch, wenn es mit Medika­men­ten gut unter­drückt werden könne, erklärt der Exper­te. Der Bauplan des Virus bleibe in langle­bi­gen Zellen. Das Corona­vi­rus sei anders: «Es muss sich ständig vermeh­ren, sonst stirbt es aus.»

Eberle zweifelt, ob es je HIV-Impfstof­fe geben wird. Streeck ist zuver­sicht­li­cher. Es laufen einige HIV-Impfstoff­stu­di­en. «Natür­lich ist die HIV-Pande­mie besser einzu­däm­men, wenn wir eine Heilung oder einen Impfstoff haben», sagt Streeck. «Aber beides ist noch in weiter Ferne.»

Anja wünscht sich, dass mehr über HIV berich­tet und geredet wird, dass Menschen lernen, dass keine Gefahr von HIV-Positi­ven ausgeht. Im medizi­ni­schen Bereich müsse besser geschult werden. Sie selbst empfand die Diagno­se auch zuerst «wie ein Todes­ur­teil». Sie hat ihren Mann verflucht, der sie angesteckt hatte. Auch sie selbst musste erst Vorur­tei­le abbau­en und lernen mit HIV zu leben. «Die Kinder haben mir das Leben geret­tet», sagt sie.

Von Chris­tia­ne Oelrich, dpa