Wochen­lang war das Haupt­pro­blem der mangeln­de Impfstoff — jetzt liegen Impfdo­sen in großen Menge auf Halde. Nun stellt sich die ethisch heikle Frage: Wer soll als nächs­tes geimpft werden?

BERLIN (dpa) — Angesichts hundert­tau­sen­der ungenutz­ter Corona-Impfdo­sen in den Ländern kocht die Debat­te über die nächs­ten Impfgrup­pen hoch.

Am Mittwoch trat eine Verord­nung von Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn (CDU) in Kraft, mit der Beschäf­tig­te an Grund­schu­len, Kitas und in der Jugend­hil­fe vorge­zo­gen werden können. Infra­ge kommen zunächst vor allem mehr als eine Milli­on bei den Ländern lagern­de Dosen des Herstel­lers Astra­ze­ne­ca. Spahn und Deutsch­lands Kassen­ärz­te dringen auf ein höheres Impftem­po. Eine vorran­gi­ge Öffnung einzel­ner Lebens­be­rei­che für Geimpf­te lehnt Bundes­kanz­le­rin Angela Merkel (CDU) ab.

Nach Angaben des Robert Koch-Insti­tuts wurden bis Diens­tag nur rund 239.000 Dosen des Herstel­lers Astra­ze­ne­ca gespritzt. Dem Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um zufol­ge sind aber bereits mehr als 1,4 Millio­nen solcher Dosen an die 16 Bundes­län­der geliefert.

WER ASTRAZENECA BEKOMMEN SOLL:

Die Lage ist in den Ländern unter­schied­lich. Nach Baden-Württem­berg beispiels­wei­se wurden bisher gut 194.000 Astra­ze­ne­ca-Dosen gelie­fert und 12.000 verimpft. Dort können seit Wochen­be­ginn nun auch das pädago­gi­sche Perso­nal in Schulen und Kitas, viele medizi­nisch Beschäf­tig­te und Menschen mit einer geisti­gen Behin­de­rung Termi­ne in Impfzen­tren verein­ba­ren — nicht aber Patien­ten mit Krebs oder anderen Krankheiten.

Seit Mittwoch können laut Impfver­ord­nung bundes­weit auch Perso­nen geimpft werden, «die in Kinder­be­treu­ungs­ein­rich­tun­gen, in der Kinder­ta­ges­pfle­ge und an Grund­schu­len tätig sind». Dazu kommen Beschäf­tig­te in Kinder- und Jugendhilfe.

Der Vorsit­zen­de der Ständi­gen Impfkom­mis­si­on (Stiko), Thomas Mertens, warnte, es dürfe nicht passie­ren, dass schwer kranke Risiko­pa­ti­en­ten leer ausgin­gen, weil ganze Berufs­grup­pen mit starker Lobby vorge­zo­gen würden. «Hier sollte es unbedingt in allen Impfzen­tren Listen geben, die festle­gen, wer an die Reihe kommt, wenn Dosen übrig bleiben», sagte Mertens der Funke-Mediengruppe.

Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patien­ten­schutz, Eugen Brysch, sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Warum ignoriert die Politik weiter­hin, dass es Millio­nen pflegen­de Angehö­ri­ge und Angehö­ri­ge von Schwan­ge­ren gibt, denen zunächst nach Verord­nung ein Angebot zu machen ist?» Der Berli­ner Virolo­ge Chris­ti­an Drosten stell­te auf Twitter fest: «Die Priori­täts­grup­pen brauchen Priori­tät. Wir brauchen aber auch eine schnel­le Versor­gung der sofort Impfbe­rei­ten.» Der Vize-Chef der Kassen­ärzt­li­chen Bundes­ver­ei­ni­gung (KBV), Stephan Hofmeis­ter kriti­sier­te, dass die Länder die Impfkam­pa­gne sehr unter­schied­lich für einzel­ne Gruppen öffne­ten. «Die einen wollen Lehrer impfen, die anderen Polizisten.»

Berlins Sozial­se­na­to­rin Elke Breiten­bach (Linke) will mit einem Teil der übrig geblie­be­nen Astra­ze­ne­ca-Dosen die rund 3000 Obdach­lo­sen in den Notun­ter­künf­ten impfen, wie sie den Funke-Zeitun­gen sagte.

IMPFSTAU:

Spahn sagte im Bundes­tag, die Länder hätten nachvoll­zieh­ba­rer­wei­se nach Impfstoff verlangt. «Nun sind die Impfdo­sen da.» Das Impftem­po werde steigen. Voraus­sicht­lich am Samstag sollen mehr als 650.000 neue Astra­ze­ne­ca-Dosen bundes­weit gelie­fert werden.

Der Astra­ze­ne­ca-Impfstoff hat eine etwas gerin­ge­re Wirksam­keit als jener von Biontech/Pfizer und Moder­na, aber mit 70 bis 80 Prozent Wirksam­keit nach Exper­ten­mei­nung immer noch eine gute. Er wird nur Menschen bis 65 verab­reicht. Es gibt aber Berich­te, dass sich viele Ärzte und Pflege­kräf­te nicht damit impfen lassen wollen.

Es gebe einen «Impfstau» in den Impfzen­tren der Länder, kriti­sier­te KBV-Chef Andre­as Gassen. «Das zeigt, dass so eine aufwen­di­ge Organi­sa­ti­on immer mit einer gewis­sen Trägheit operiert.» KBV-Vize Hofmeis­ter mahnte: «Unver­impft sollte der Impfstoff nicht herumliegen.»

IMPFUNG IN DEN PRAXEN:

Die KBV rechne­te mit einer mögli­cher Auswei­tung der Impfun­gen auf die 75.000 dafür in Frage kommen­den Haus- und Facharzt­pra­xen in der ersten Hälfte des zweiten Quartals. Voraus­set­zung seien genügend Impfstof­fe, Sprit­zen und anderes Materi­al. Dann sei das «kein Hexen­werk, das ist Tages­ge­schäft». Auch der Impfstoff von Biontech und Pfizer, der im Grund­satz stark gekühlt werden muss, könne in den Praxen verimpft werden; er sei 120 Stunden bei Kühlschrank­tem­pe­ra­tu­ren lagerfähig.

Die Impfkam­pa­gne kann nach von der KBV präsen­tier­ten Zahlen ohne Arztpra­xen nicht schnell stark beschleu­nigt werden. In den 433 Impfzen­tren konnten demnach zuletzt nur 140.000 Impfun­gen pro Tag vorge­nom­men werden. Seit Beginn der Impfkam­pa­gne Ende Dezem­ber 2020 wurden bislang 5,7 Millio­nen Dosen geimpft — von insge­samt 7,5 Millio­nen ausge­lie­fer­ten. Die Länder schät­zen laut KBV, dass sie im März über 550.000 Impfun­gen pro Tag leisten können — die Praxen könnten rund eine Milli­on täglich an fünf Tagen je Woche durchführen.

Gassen mahnte die Politik, keine unnöti­ge Bürokra­tie für die Impfung in den Praxen vorzu­se­hen. Hofmeis­ter machte darauf aufmerk­sam, dass dann keine aufwän­di­gen Einla­dun­gen mehr nötig seien. Aber: «Es geht auch dann immer nur der Reihe nach.»

IMPFGRUPPEN:

Bereits bisher war vorge­se­hen, dass über 70-Jähri­ge in Gruppe zwei geimpft werden — und Menschen mit Demenz oder geisti­ger Behin­de­rung, nicht ruhen­dem Krebs, chroni­schen Lungen‑, Leber- oder Nieren­krank­hei­ten, schwe­rer Diabe­tes, Adipo­si­tas sowie Kontakt­per­so­nen von Schwan­ge­ren und Pflege­be­dürf­ti­gen zuhau­se. Auch Polizis­ten, Angehö­ri­ge bestimm­ter Gesund­heits­be­ru­fe sowie Menschen, die in Obdach­lo­sen- und Asylbe­wer­ber­un­ter­künf­ten unter­ge­bracht sind, zählen zur Gruppe zwei. Vor Gruppe zwei waren — und sind in weiten Teilen noch — die Hochbe­tag­ten über 80, Pflege­be­dürf­ti­ge und Pflege­kräf­te in Heimen, Beschäf­tig­te ambulan­ter Pflege­diens­te, auf Inten­siv­sta­tio­nen und Rettungs­sa­ni­tä­ter an der Reihe.

Nach neuen Modell­rech­nun­gen der KBV kann es gelin­gen, am 1. August einen Impfvoll­schutz der gesam­ten Bevöl­ke­rung zu leisten. Für den Pande­mie­ver­lauf ist die Priori­tä­ten­set­zung bis dahin nicht das Entschei­den­de. Entschei­dend sei eine ausrei­chen­de «Menge Mensch geimpft zu haben», sagte Gassen.

BEVORZUGUNG FÜR GEIMPFTE:

In der Debat­te um Öffnun­gen im Lockdown für Geimpf­te wandte sich Merkel gegen Bevor­zu­gun­gen. «Solan­ge die Zahl der Geimpf­ten noch so viel kleiner ist als die derje­ni­gen, die auf die Impfung warten, sollte der Staat beide Gruppen nicht unter­schied­lich behan­deln», sagte Merkel der «Frank­fur­ter Allge­mei­nen Zeitung». Spahn kündig­te einen vorüber­ge­hen­den digita­len Impfnach­weis an, den man zusätz­lich zu dem gängi­gen gelben Impfheft­chen bekom­men kann. Dieser solle schon früher zu nutzen sein, als der ohnehin Anfang 2022 kommen­de digita­le Impfpass als Teil der elektro­ni­schen Patientenakte.