BERLIN (dpa) — Konzert­ver­an­stal­ter und Künst­le­rin­nen verzwei­feln. Die Branche hat sich noch nicht von der Pande­mie erholt, zusätz­lich macht ihr die Infla­ti­on zu schaf­fen. Wann rappelt sie sich auf und wird es jemals so wie vorher?

Zwei Extre­me spiegeln sich in der Konzert­bran­che wider: Der Konzert­kar­ten­an­bie­ter Ticket­mas­ter stopp­te den Vorver­kauf für die US-Stadi­on­tour von Taylor Swift (33), weil zu viele Fans ein Ticket ergat­tern wollten. Auf Twitter schrieb Ticket­mas­ter von einer «histo­risch beispiel­lo­sen» Nachfra­ge. Auch der briti­sche Star Ed Sheeran (31) spiel­te 2022 in ausver­kauf­ten Stadien.

Auf der anderen Seite sagen etwa die deutsche Band Tocotro­nic, Indie-Sänger «Das Paradies» oder die Kölschrock­band Kasal­la ihre Konzer­te wegen zu gerin­ger Karten­ver­käu­fe ab. Wie geht es der Branche also wirklich — werden künftig nur Super­stars ihre Shows ausver­kau­fen? Ein Exper­te rät den Veran­stal­tern, Konzer­te neu zu denken statt über halbvol­le Säle zu jammern — ein anderer hält dagegen.

Wie es der Branche wirklich geht

Dem Präsi­den­ten des Bundes­ver­ban­des der Konzert- und Veran­stal­tungs­wirt­schaft, Jens Michow, zufol­ge erwecken die wenigen ausver­kauf­ten Veran­stal­tun­gen einen falschen Eindruck: «Alle erst in diesem Jahr neu geplan­ten Konzer­ten und Tourneen mit natio­na­len Künst­lern, laufen weitaus schlech­ter als vor der Krise.» Dazu zählten auch Konzer­te natio­na­ler Top-Acts.

Außer­dem fehlen laut Michow nicht nur die Fans, sondern sowohl Arbeit­neh­mer als auch selbst­stän­di­ge Fachkräf­te im Bereich der Ton- und Licht­tech­nik oder beim Aufbau- oder Sicher­heits­per­so­nal. «Das ist vor allem darauf zurück­zu­füh­ren, dass viele aufgrund der in den letzten drei Jahren andau­ern­den Perspek­tiv­lo­sig­keit der Veran­stal­tungs­wirt­schaft in andere Branche abgewan­dert sind.»

Der Zukunfts­for­scher Ulrich Reinhardt stimmt Michow im Hinblick auf die halbvol­len Säle zu. Immer weniger Menschen gehen auf Konzer­te und verbrin­gen ihre Freizeit zuneh­mend passiv, wie er mitteilt. «Gründe hierfür sind zahlreich und reichen von einem attrak­ti­ven Medien­an­ge­bot, über die Nachwir­kun­gen von Corona. Aktuell kommt noch die finan­zi­el­le Unsicher­heit dazu.» Reinhardts Fachkol­le­ge Horst Opaschow­ski sieht das ähnlich. Seiner Ansicht nach ist eine Rückkehr zum alten Kultur­le­ben erst wieder mit einer neuen Genera­ti­on möglich — «die vielleicht gar nicht mehr weiß, was eine Corona-Krise war.»

Muss sich etwas verändern?

Die beiden Zukunfts­for­scher sind sich also einig: Zu einer Freizeit­ge­stal­tung wie vor der Pande­mie werden die Menschen nicht mehr zurück­keh­ren. «Und das ist auch gut so, denn das Freizeit­an­ge­bot muss sich weiter­ent­wi­ckeln, so war es schließ­lich immer», fügt Reinhardt hinzu. Außer­dem lohne es sich, über neue Wege der Konzert­ge­stal­tung nachzu­den­ken, statt nur zu jammern. Vielen reiche es, die Idole nur virtu­ell zu sehen. Fast jeder Künst­ler sei heute in den sozia­len Medien aktiv, dort könnten die Fans ihren Idolen gefühlt näher sein als auf einem Konzert, so Reinhardt.

Der Psycho­lo­ge Leon Windscheid hält dagegen. Der Mensch sei eine hyper­so­zia­le Spezi­es, die es seit rund 300 000 Jahren gebe. Digita­li­sie­rung beglei­te die Gesell­schaft hinge­gen erst seit ein paar Jahrzehn­ten. «Denkt denn irgend­wer, dass unser sozia­les Wesen dafür gemacht wurde, dass wir in der digita­len Welt mitein­an­der statt­fin­den? Auf gar keinen Fall!», sagt Windscheid der dpa. «Ich finde, wenn man jetzt so pessi­mis­tisch auf etwas guckt, was seit Jahrtau­sen­den Kultur­gut ist, dann redet man etwas kaputt, was ein Kernbe­dürf­nis des Menschen ist.»

Zudem sei das mensch­li­che Gehirn formbar. «Wenn wir uns in zwei Jahren Pande­mie eine Angst davor, mit Menschen zusam­men zu sein, antrai­nie­ren können, dann können wir das auch wieder verler­nen», erklärt der Psycho­lo­ge, der seit einigen Jahren mit Live-Shows selbst auf der Bühne steht und auch aktuell mit einem neuen Programm tourt. Er ist nicht von schlech­ten Ticket­ver­käu­fen betroffen.

Was die Situa­ti­on mit betrof­fe­nen Künst­lern macht

Laut Windscheid ist es für Künst­le­rin­nen und Künst­ler ein massi­ver Angriff auf die Persön­lich­keit, wenn plötz­lich der Applaus wegbleibt. Natür­lich bricht Betrof­fe­nen teilwei­se auch das Einkom­men weg, schließ­lich verdie­nen sie unter anderem mit Konzer­ten ihr Geld.

Rapper Alan Julian Asare-Tawiah alias Ahzum­jot schrieb kürzlich in einem Insta­gram-Post: «ich war oft sehr kurz davor die tour abzusa­gen. die vorbe­rei­tun­gen waren anstren­gend, die kalku­la­tio­nen frustrie­rend, die stimmung angespannt. auf tour zu gehen wird immer mehr ein privi­leg für die ganz großen acts.»

Arbeit sei aber mehr als reiner Brotge­winn, sie gebe auch Struk­tur, sagt Windscheid. Arbeit sei etwas, was Menschen aus einem inneren Antrieb heraus tun. «Ich würde vermu­ten, dass die meisten sich vorstel­len können, dass gerade Künst­le­rin­nen und Künst­ler da vielleicht auch einen beson­de­ren Antrieb haben», fährt der Psycho­lo­ge fort. «Gerade die, die vielleicht Klein­kunst machen und am Anfang ihrer Karrie­re stehen, sind jetzt doppelt geschnit­ten, weil sie die finan­zi­el­len Proble­me schon aus der Pande­mie haben und vielleicht nie die großen Rückla­gen bilden konnten.» 

Ein Blick auf die Zukunft

Michows Blick auf die Zukunft ist alles andere als optimis­tisch: «Insge­samt geht die Branche davon aus, dass damit gerech­net werden muss, dass sich die Situa­ti­on 2023 nochmals verschlech­tern wird. Mit einem Erholungs­trend rechnen wir frühes­tens Ende 2023», sagt der Präsi­dent des Bundes­ver­ban­des der Konzert- und Veran­stal­tungs­wirt­schaft. Leon Windscheid hinge­gen ist zuver­sicht­lich: «Ich glaube, dass die Menschen diesen Wert und diese Freude, die sie alle noch in Erinne­run­gen abgespei­chert haben, vom Zusam­men­kom­men in Räumen, von echten geteil­ten Emotio­nen, nicht von anderen blöden Emojis oder Onlineap­plaus kennen.» Die Idee, Künst­le­rin­nen und Künst­ler müssten jetzt auf das Digita­le umschal­ten, hält er für den völlig falschen Weg.

Die Zukunfts­for­scher Opaschow­ski und Reinhardt sind zwar der Meinung, die Veran­stal­tun­gen müssten sich anpas­sen. Reinhardt betont dennoch: «Bei Konzer­ten zählt neben der eigent­li­chen Perfor­mance auf der Bühne auch die sozia­le Komponente.»

Von Oliwia Nowakows­ka, dpa