BERLIN (dpa) — Der Krieg in der Ukrai­ne tobt nur zwei Flugstun­den von Deutsch­land entfernt. Das weckt hier bei vielen Menschen Erinne­run­gen, an Flieger­alarm, Flucht und Vertrei­bung — an das Lebens­ge­fühl einer Genera­ti­on. Stich­wort «Kriegs­kin­der».

Der Anrufer ist hochbe­tagt, mit 16 musste er in den Zweiten Weltkrieg ziehen. Fast 80 Jahre später tobt ein Krieg in der Ukrai­ne, das weckt bei ihm Erinne­run­gen. Beim Senio­ren­te­le­fon Silber­netz bricht es aus dem Mann heraus: Er habe damals schlim­me Taten began­gen, an Zivilisten.

«Das kam alles wieder hoch», erzählt Silber­netz-Gründe­rin Elke Schil­ling. Die Hotline gegen Einsam­keit im Alter verzeich­net während des Kriegs einen Zuwachs bei den Anrufen. Auch alte Frauen sind dabei, deren Mütter verge­wal­tigt worden waren, was in Deutsch­land lange verschwie­gen wurde. Es war in den Famili­en der Nachkriegs­zeit ein Tabuthe­ma, das sich auch hinter dem Satz «Wenn die Russen kommen, dann lauft» verbarg.

«Weckt starke Erinnerungen»

Heute kommt bei einigen der — durch die deutsche Kriegs­schuld verur­sach­te — Schmerz wegen der Gräuel und Massa­ker in der Ukrai­ne wieder hoch. «Das weckt starke Erinne­run­gen, das ist völlig klar», sagt die Bestsel­ler­au­torin Sabine Bode. Sie hatte Kontak­te zu Hunder­ten von Zeitzeu­gen für ihre wegwei­sen­den Büchern «Kriegs­kin­der» und «Kriegs­en­kel». Darin deckte Bode auf, wie sich kindli­che Kriegs­trau­ma­ta Jahrzehn­te später und über Genera­tio­nen hinweg auswirk­ten. Über die zwischen 1930 und 1945 gebore­nen Kriegs­kin­der sagt sie: «Diese Jahrgän­ge sind über Jahrzehn­te ungetrös­tet gewesen.»

Mit Blick auf die Ukrai­ne sagt Bode: «So nah war ein Krieg bis auf den Balkan-Krieg noch nie, schon gar nicht mit so vielen Bildern.» Das nur zwei Flugstun­den entfern­te Gesche­hen kann sich aus ihrer Sicht wie ein Erdbe­ben auswir­ken: «Jede Familie mit Vertrie­be­nen-Hinter­grund versetzt das in Unruhe.» Sie hält es für vorstell­bar, dass nun in den deutschen Famili­en nicht nur die «geron­ne­nen Anekdo­ten» erzählt werden, die beispiels­wei­se die Flucht aus Ostpreu­ßen 1945 als kindli­ches Abenteu­er schil­dern, sondern auch nie zuvor Gehörtes.

Helfen oder abgrenzen

2015, als die vielen Flücht­lin­ge aus Nahost kamen, habe es hier in den Famili­en scharf getrenn­te Gruppen gegeben: die einen, die unbedingt helfen wollten, die anderen, die sich abgrenz­ten, nach dem Motto: «Uns hat damals auch keiner geholfen.»

Tatsäch­lich gab es in den Nachkriegs­jah­ren wenig Willkom­mens­kul­tur. Das stark durch den Krieg zerstör­te und verklei­ner­te Deutsch­land musste damals eine gewal­ti­ge Zahl an Flücht­lin­gen und Vertrie­be­nen aufneh­men: Zwölf Millio­nen waren es Stand 1950, wodurch die großen Kriegs­ver­lus­te in der Bevöl­ke­rung wieder ausge­gli­chen wurden, wie der Histo­ri­ker Micha­el Schwartz (Insti­tut für Zeitge­schich­te München-Berlin) schil­dert. «Zunächst war die deutsche Nachkriegs­ge­sell­schaft — trotz entspre­chen­der Politi­ker-Appel­le — im Alltag wenig von Solida­ri­tät geprägt, vielmehr von Ableh­nung der Flücht­lin­ge durch sozia­le und kultu­rel­le Konflikte.»

Flücht­lin­ge galten laut Schwartz als sozia­le Belas­tung. Sie brauch­ten Wohnraum, Arbeits­plät­ze und finan­zi­el­le Unter­stüt­zung — und das alles war knapp. Sie wurden abgelehnt, als «Polacken» beschimpft. «Materi­ell standen die Flücht­lin­ge ganz unten in der sozia­len Hierar­chie», sagt Schwartz.

Ein drasti­sches Beispiel für die Stimmung damals findet sich im Buch «Flücht­lings­land Schles­wig-Holstein»: Im März 1945 wurde ein Flücht­lings­mäd­chen mit seiner Mutter bei einer Familie in Heide im Schlaf­zim­mer einquar­tiert. Die Tochter des Hauses kam ins Zimmer, um zu schau­en, was auf der Straße los ist. Als sie einen der Trans­por­te mit Flücht­lin­gen sah, rief sie: «O‑hau-e-hau-e-ha! Bald mehr Flücht­lin­ge als Menschen in Heide!»

«Makel» der Herkunft

Die Histo­ri­ke­rin und Autorin Miriam Gebhardt («Als die Solda­ten kamen») hat die Prägung dieser Genera­ti­on beobach­tet: «Die Kinder, die erst in Camps und dann oft in Neubau­sied­lun­gen unter ihres­glei­chen gewohnt haben, sind wie in einer Zeitkap­sel groß gewor­den mit den tränen­rei­chen Erzäh­lun­gen ihrer Eltern von der alten Heimat. Sie wurden frühzei­tig zu Fleiß und Taten­drang angehal­ten, denn sie sollten den “Makel” ihrer Herkunft wettma­chen und sich um den Wieder­auf­bau des Landes verdient machen.»

Wie auch beim Rest der Bevöl­ke­rung kamen demnach in diesem Klima die kindli­chen Bedürf­nis­se nach Zärtlich­keit und Spiel eher zu kurz. «Sie erleb­ten ihre Eltern oft als verhärmt und emotio­nal unzugäng­lich», sagt Gebhardt, die sich in einem im Mai erschei­nen­den Buch «Unseren Nachkriegse­l­tern» widmet.

«Alte Angst vor “dem Russen” bekommt neue Nahrung»

Was lösen die Kriegs­bil­der von heute bei den älteren Deutschen aus? «Weil Russland der Aggres­sor ist, bekommt die alte Angst vor “dem Russen” neue Nahrung», sagt Gebhardt. «Die war schon vor der Kapitu­la­ti­on am 8. Mai 1945 dank der Propa­gan­da von Joseph Goebbels extrem ausge­prägt gewesen, und was dann auf der Flucht und bei der Beset­zung geschah, denken Sie an die Massen­ver­ge­wal­ti­gun­gen, schien die Ängste nur zu bestä­ti­gen. Den Kindern und Enkeln wurde davon zwar oft nur in Andeu­tun­gen erzählt, aber das hat die Bilder in der Fanta­sie eher noch verschlimmert.»

Die erneut große Hilfs­be­reit­schaft während des Ukrai­ne-Kriegs hängt für Gebhardt wie anfangs auch im Jahr 2015 mit dem kollek­ti­ven Gedächt­nis der Deutschen an die eigenen Flucht­er­fah­run­gen zusam­men. «Und im Gegen­satz zu 2015 sind es diesmal vor allem Frauen und Kinder, die kommen. Das lädt noch mehr zur Identi­fi­ka­ti­on ein, denn auf den Flücht­lings­trecks 1945 waren es auch in erster Linie Frauen, Kinder und Alte gewesen.»

Sicher ist: Die Ukrai­ne ist ein Thema, das die deutsche Gesell­schaft im Frühjahr 2022 tief prägt, wohl deutlich mehr als andere Kriege weltweit, was viele Gründe hat. Die Erinne­run­gen an den Zweiten Weltkrieg bleiben bis ins hohe Alter. «Bomben, die kamen ja immer mit Bomben, die Flugzeu­ge», so erinnert sich in einem MDR-Bericht eine 92 Jahre alte Bewoh­ne­rin eines Pflege­heims in Thürin­gen. Als 15-jähri­ges Mädchen habe sie immer alles stehen und liegen lassen, wenn Flieger­alarm war.

Auch das in Berlin gegrün­de­te bundes­wei­te Senio­ren­te­le­fon Silber­netz spürt die Stimmung unter den Älteren. Dort ist die Zahl der Anrufe von etwa 150 zu Weihnach­ten auf 200 am Tag gestie­gen. Die Älteren sorgen sich laut der Gründe­rin Elke Schil­ling nicht nur wegen des Kriegs, sondern auch vor den steigen­den Kosten. Manche helfen sich mit Galgen­hu­mor: Eine Anrufe­rin sagte, sie habe noch Klopa­pier mit Oster­ha­sen aus der Zeit vor zwei Jahren, als die Pande­mie begann. Und noch etwas hilft, wie Schil­ling sagt: Wenn das Wetter schön ist, nimmt die Zahl der Anrufe ab. Das Draußen­sein ist wie eine Erlösung.

Von Caroli­ne Bock, dpa