KIEW (dpa) — Das Vorrü­cken der ukrai­ni­schen Armee und der Rückzug russi­scher Solda­ten lassen eine Wende im Krieg möglich erschei­nen. In Deutsch­land wächst der Druck auf den Kanzler. Die Ereig­nis­se im Überblick.

Die ukrai­ni­sche Armee hat nach Angaben von Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj seit Anfang Septem­ber mehr als 6000 Quadrat­ki­lo­me­ter Land von den russi­schen Besat­zern zurück­er­obert. «Unsere Truppen bleiben in Bewegung», sagte er in Kiew. Angesichts von russi­schen Raketen­an­grif­fen auf das Strom­netz seines Landes forder­te er vom Ausland eine schnel­le­re Liefe­rung von Luftabwehrwaffen.

Der ukrai­ni­sche General­stab berich­te­te von russi­schen Attacken an vielen Stellen der Front. In dem von russi­schen Truppen besetz­ten Atomkraft­werk Saporischschja entspann­te sich die Lage derweil etwas, weil zwei Strom­lei­tun­gen zum Kühlsys­tem der abgeschal­te­ten Reakto­ren repariert werden konnten. Für die Ukrai­ne ist am Diens­tag der 202. Tag im Abwehr­kampf gegen die russi­sche Invasi­on. In Deutsch­land geht die Diskus­si­on über eine Liefe­rung von Kampf- und Schüt­zen­pan­zern an das angegrif­fe­ne Land weiter.

Ukrai­ni­sche Armee rückt weiter vor

Die ukrai­ni­schen Truppen durch­käm­men die zurück­er­ober­ten Gebie­te im Osten nach Kolla­bo­ra­teu­ren der russi­schen Besat­zungs­macht. Außer­dem würden Minen geräumt, teilte der ukrai­ni­sche General­stab in seinem Lagebe­richt vom Montag­abend mit. Er machte keine weite­ren Angaben zum Vordrin­gen der Ukrai­ner, die die russi­schen Truppen im Gebiet Charkiw weitge­hend in die Flucht geschla­gen haben. Die Russen ließen dabei viele Waffen und schwe­res Materi­al zurück. Der ukrai­ni­sche Vorstoß gilt als Etappen­sieg bei der Rückerobe­rung besetz­ter Gebie­te, der über die Ukrai­ne hinaus Hoffnun­gen auf eine militä­ri­sche Wende nährt.

Am Montag zeigten Fotos, dass ukrai­ni­sche Solda­ten in Sjwato­hirsk im Gebiet Donezk sind. Der Anfüh­rer der aus Moskau gesteu­er­ten Separa­tis­ten von Donezk, Denis Puschi­lin, bestä­tig­te Kämpfe um die Stadt, die ein wichti­ges ortho­do­xes Kloster hat. «Swjato­hirsk, das sage ich ganz ehrlich, wird derzeit weder von uns noch vom Feind vollstän­dig kontrol­liert», sagte er in einer Video­bot­schaft. Zu überprü­fen waren die Angaben zunächst nicht.

Puschi­lin bestä­tig­te auch einen ukrai­ni­schen Angriff auf den Flugha­fen von Donezk. Die Angrei­fer seien vernich­tet worden, sagte er, was ebenfalls nicht zu überprü­fen war. Erste ukrai­ni­sche Berich­te über die Attacke hatten am Samstag die Runde gemacht. Auf dem 2014 zerstör­ten Flugha­fen verlief seit damals die Front zwischen den Separa­tis­ten und der ukrai­ni­schen Armee. Ein Angriff dort wäre das erste Vorrü­cken der Ukrai­ner auf Gebiet der sogenann­ten Volks­re­pu­blik Donezk, seit Russland das Nachbar­land am 24. Febru­ar überfal­len hat.

Selen­skyj will schnel­ler stärke­re Flugabwehr

Die Hilfe inter­na­tio­na­ler Partner für die Ukrai­ne müsse aufge­stockt werden, forder­te Selen­skyj in seiner allabend­li­chen Video­an­spra­che. «Gemein­sam können wir den russi­schen Terror überwinden.»

Russi­sche Raketen­tref­fer auf ein Kraft­werk bei Charkiw hatten am Sonntag­abend große Teile des Strom­net­zes in der Ostukrai­ne zeitwei­se lahmge­legt. «Hundert­tau­sen­de Ukrai­ner fanden sich im Dunkeln wieder — ohne Strom. Häuser, Kranken­häu­ser, Schulen, kommu­na­le Infra­struk­tur», sagte Selen­skyj. «Russi­sche Raketen treffen genau jene Objek­te, die absolut nichts mit der Infra­struk­tur der Streit­kräf­te unseres Landes zu tun haben.» Er deute­te den Beschuss als Rache für den Vormarsch der ukrai­ni­schen Armee im Gebiet Charkiw.

Deutsch­land hat der Ukrai­ne das moder­ne Luftab­wehr­sys­tem Iris‑T zugesagt. Die Ukrai­ne hofft auf eine schnel­le Liefe­rung. Nach ukrai­ni­schen Berich­ten soll die erste Einheit Ende des Jahres geschickt werden.

AKW Saporischschja wieder besser mit Strom versorgt

Das von russi­schen Truppen besetz­te AKW Saporischschja in der Ukrai­ne ist inzwi­schen wieder an zwei Reser­ve­strom­lei­tun­gen angeschlos­sen. So könne eine Leitung das Kühlsys­tem der abgeschal­te­ten Reakto­ren versor­gen, die zweite sei in Reser­ve, teilte die Inter­na­tio­na­le Atomener­gie­be­hör­de (IAEA) in Wien am Montag­abend mit. Der sechs­te und letzte Reaktor sei herun­ter­ge­fah­ren worden und benöti­ge nun weniger Strom zur Kühlung.

Trotz­dem bleibe die Lage am größten Kernkraft­werk Europas mitten im Kampf­ge­biet prekär, warnte IAEA-Chef Rafael Grossi. Die vier Haupt­lei­tun­gen seien zerstört, das Kraft­werk liefe­re keinen Strom. «Eine nuklea­re Schutz- und Sicher­heits­zo­ne ist dringend erfor­der­lich», mahnte er. Er habe darüber die ersten Konsul­ta­tio­nen mit allen Betei­lig­ten geführt.

Das wird am Diens­tag wichtig

In Deutsch­land wird weiter über die Liefe­rung von Kampf- und Schüt­zen­pan­zern an die Ukrai­ne gestrit­ten. Der Druck von Grünen und FDP wächst, auch wenn Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) am Montag noch einmal die Beschrän­kung auf Artil­le­rie und Flugab­wehr beton­te. Es bleibe dabei, «dass es keine deutschen Allein­gän­ge gibt», sagte Scholz in Berlin. Auch Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rin Chris­ti­ne Lambrecht (SPD) warnte davor. SPD-Chefin Saskia Esken schloss die Liefe­rung von Kampf­pan­zern nicht aus, pochte aber auf inter­na­tio­na­le Abstimmung.

Bundes­fi­nanz­mi­nis­ter und FDP-Chef Chris­ti­an Lindner plädier­te für zusätz­li­che Unter­stüt­zung. «Vor der Tapfer­keit der Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner muss man salutie­ren. Wir müssen jeden Tag prüfen, ob wir noch mehr tun können, um ihnen in diesem Krieg beizu­ste­hen», schrieb Lindner auf Twitter. «Die Ukrai­ne muss diesen Krieg gewinnen.»

Auch Robin Wagener (Grüne), Vorsit­zen­der der deutsch-ukrai­ni­schen Parla­men­ta­ri­er­grup­pe im Bundes­tag, forder­te mehr Unter­stüt­zung: «Unsere Freiheit wird nicht auf den Gefechts­übungs­plät­zen der Bundes­re­pu­blik, sondern an der Front in der Ukrai­ne verteidigt.»

Auf der deutschen Liefer­lis­te stehen bisher der Flugab­wehr­pan­zer Gepard, die Panzer­hau­bit­ze 2000, Mehrfach­ra­ke­ten­wer­fer und das Flugab­wehr­sys­tem Iris‑T sowie weite­re Waffen und Munition.