KIEW/MOSKAU (dpa) — Die Ukrai­ne hält Verhand­lun­gen für zweck­los und ist überzeugt, die russi­schen Besat­zer militä­risch aus dem Land vertrei­ben zu können. In Moskau mehrt sich derweil Kritik am Krieg. Die News im Überblick.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hat eine neue Offen­si­ve angekün­digt. An einer Stelle im Osten des Landes bilde­te die ukrai­ni­sche Armee nach eigenen Angaben bereits einen Brücken­kopf, um weiter vordrin­gen zu können. Selen­sky­js Berater halten angesichts der derzei­ti­gen militä­ri­schen Lage, aber auch wegen der Vielzahl an Kriegs­ver­bre­chen, die sie dem russi­schen Militär vorwer­fen, Verhand­lun­gen für sinnlos.

In Moskau übte derweil eine der bekann­tes­ten Schla­ger­sän­ge­rin­nen des Landes überra­schend harte Kritik am russi­schen Angriffs­krieg. Die Pop-Diva Alla Pugat­scho­wa, die erst kürzlich aus Israel nach Russland zurück­ge­kehrt war, forder­te das Justiz­mi­nis­te­ri­um auf, sie zum «Auslands­agen­ten» zu stempeln, weil sie für den Frieden sei. Heute ist der 208. Tag des Kriegs in der Ukraine.

Selen­skyj spricht von bevor­ste­hen­der neuer Offensive

Selen­skyj kündig­te neue Angrif­fe auf das von russi­schen Truppen besetz­te Gebiet in der Ukrai­ne an. «Vielleicht erscheint es irgend­je­man­dem unter Ihnen so, dass nach einer Reihe von Siegen Stille einge­tre­ten ist, doch das ist keine Stille», sagte Selen­skyj in seiner tägli­chen Video­an­spra­che. Vielmehr sei es die Vorbe­rei­tung auf die nächs­te Offen­si­ve, deren Ziel die Rückerobe­rung von Mariu­pol, Melito­pol und Cherson sei.

Nach Angaben Selen­sky­js wird sich die Ukrai­ne dabei nicht nur auf die Gebie­te konzen­trie­ren, die es vor dem russi­schen Überfall im Febru­ar kontrol­lier­te. Auch die Terri­to­ri­en der von Moskau unter­stütz­ten Separa­tis­ten im Osten des Landes und Städte auf der seit 2014 von Russland annek­tier­ten Krim würden zurück­er­obert, kündig­te der 44-Jähri­ge an. «Denn die gesam­te Ukrai­ne muss frei sein.»

Russland hat nach seinem Einmarsch in der Ukrai­ne am 24. Febru­ar große Gebie­te im Süden und Osten des Landes erobert. Derzeit hält Moskau immer noch rund 125.000 Quadrat­ki­lo­me­ter besetzt — das ist etwa ein Fünftel des ukrai­ni­schen Staats­ge­bie­tes inklu­si­ve der Halbin­sel Krim.

Kiew lehnt Verhand­lun­gen als sinnlos ab

Kiew schloss Verhand­lun­gen und ein Treffen von Russlands Präsi­den­ten Wladi­mir Putin und Selen­skyj zum jetzi­gen Zeitpunkt aus. «Kurz gesagt, der Verhand­lungs­pro­zess an sich und ein persön­li­ches Treffen der Präsi­den­ten ergeben derzeit keinen Sinn», sagte der exter­ne Berater des ukrai­ni­schen Präsi­den­ten­bü­ro­chefs, Mycha­j­lo Podol­jak, ukrai­ni­schen Medien zufolge.

Podol­jak nannte drei Gründe, warum Gesprä­che in dieser Phase zweck­los seien. Erstens werde Russland dabei versu­chen, Gelän­de­ge­win­ne festzu­hal­ten und zu legiti­mie­ren. Zweitens diene das Festhal­ten des Status quo Russland nur als Atempau­se, um dann die Angrif­fe auf der neuen Linie fortset­zen zu können. Und drittens müsse Russland für die auf ukrai­ni­schem Terrain began­ge­nen Verbre­chen zur Rechen­schaft gezogen werden. Verhand­lun­gen seien also erst möglich, wenn sich die russi­schen Truppen von ukrai­ni­schem Gebiet zurück­ge­zo­gen hätten. Dann könne über die Höhe der Repara­ti­ons­zah­lun­gen und die Heraus­ga­be von Kriegs­ver­bre­chern verhan­delt werden, sagte Podol­jak. Russland und die Ukrai­ne hatten kurz nach dem russi­schen Einmarsch über eine Friedens­lö­sung verhan­delt, waren jedoch nicht zu einer endgül­ti­gen Einigung gelangt.

Brücken­kopf für mögli­che Fortset­zung der Offensive

Kiew bezieht sein Selbst­be­wusst­sein aus der jüngs­ten eigenen Offen­si­ve im Norden des Landes. Dabei wurde der Großteil des Gebie­tes Charkiw befreit. Die russi­schen Truppen bauten die neue Front am Ostufer des Flusses Oskil auf, doch auch diese Linie scheint zu wackeln. Das ukrai­ni­sche Militär konnte nach eigenen Angaben an dem Fluss Truppen­tei­le überset­zen und damit einen Brücken­kopf gen Osten bilden.

«Die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te haben den Oskil überwun­den. Seit gestern kontrol­liert die Ukrai­ne auch das linke Ufer», teilte die Presse­stel­le der ukrai­ni­schen Streit­kräf­te per Video auf ihrem Telegram-Kanal mit. Zuvor gab es Berich­te, dass Kiew sich die Kontrol­le über den Ostteil der Stadt Kupjansk gesichert habe. Unabhän­gig können die Angaben nicht überprüft werden.

Bei ihrer Gegen­of­fen­si­ve Anfang Septem­ber waren die ukrai­ni­schen Kräfte im Gebiet Charkiw bis an den Oskil vorge­sto­ßen. Dahin­ter bauten die russi­schen Truppen nach ihrem Rückzug eine neue Front­li­nie auf und wehrten mehre­re Versu­che der Ukrai­ner ab, den Fluss zu überque­ren. Die Bildung eines Brücken­kopfs auf der Ostsei­te des Oskil wäre ein strate­gisch wichti­ger Erfolg für die ukrai­ni­schen Truppen. Damit könnten sie ihren Angriff Richtung Gebiet Luhansk fortset­zen. Über den genau­en Ort der Fluss­que­rung machte das Militär keine Angaben.

Kritik am Krieg in Moskau

Die bekann­te russi­sche Popsän­ge­rin Pugat­scho­wa kriti­sier­te Russlands Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne. Da das Justiz­mi­nis­te­ri­um ihren Ehemann Maxim Galkin als «Auslands­agent» auf eine Schwar­ze Liste gesetzt habe, bitte sie darum, ebenfalls zu den Auslands­agen­ten gezählt zu werden, schrieb die 73-Jähri­ge auf ihrem Insta­gram-Account. Seit den 70er Jahren prägte Pugat­scho­wa die Rock- und Popmu­sik in Russland. Nach Beginn des Kriegs gegen die Ukrai­ne reiste das Paar nach Israel aus.

Im Gegen­satz zu Galkin, der Kritik an der russi­schen Führung übte, hat sich Pugat­scho­wa mit politi­schen Äußerun­gen bislang zurück­ge­hal­ten. Umso größer ist das Echo, das nun auf ihre harte Kriegs­kri­tik folgen könnte. Der Polito­lo­ge Abbas Gallja­mow, einst Reden­schrei­ber von Präsi­dent Putin, sprach von einer «kräfti­gen Ohrfei­ge» für den Kreml.

Das wird heute wichtig

Im ostukrai­ni­schen Gebiet Charkiw wollen die Ermitt­ler weite­re Bewei­se für russi­sche Kriegs­ver­bre­chen sammeln. In Isjum, wo zuletzt 440 Gräber gefun­den wurden, soll die Exhumie­rung der Leichen weiter gehen. Einige der Opfer weisen nach ukrai­ni­schen Angaben Folter­spu­ren auf.

An der Grenze zu Polen und dem Balti­kum geht es derweil für russi­sche Staats­bür­ger mit Schen­gen-Visum ab heute nicht mehr weiter. Die vier Staaten haben beschlos­sen, Russen trotz gülti­ger Visa für touris­ti­sche Aufent­hal­te, Geschäfts­rei­sen, Sport- und Kultur­ver­an­stal­tun­gen die Einrei­se zu verweh­ren. Die Maßnah­me soll den Druck auf Moskau erhöhen, ist aber selbst inner­halb der EU nicht unumstritten.