MOSKAU/KIEW/ODESSA (dpa) — Nur einen Tag nach der Annexi­on von vier ukrai­ni­schen Gebie­ten muss sich das russi­sche Militär in Donezk zurück­zie­hen. Die Wut in Moskau kommen­tiert Wolodym­yr Selen­skyj mit Genug­tu­ung. Der Überblick.

Auf den Rausch der Annexi­on folgt die Ernüch­te­rung in Russland: Nach der bitte­ren Nieder­la­ge in der Schlacht um die strate­gisch wichti­ge Stadt Lyman im Osten der Ukrai­ne gärt in Moskau die Wut. Mehre­re hochran­gi­ge russi­sche Politi­ker fordern ein Köpfe­rol­len bei der Militär­füh­rung und gar den Einsatz von Atomwaffen.

Die Ukrai­ne und der Westen zeigen sich unbeein­druckt: In Kiew spotte­te Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj, dass ukrai­ni­sche Flaggen nun dort hingen, wo die Russen zuvor Schein­re­fe­ren­den veran­stal­tet hätten. In der Schwarz­meer­stadt Odessa empfing Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Olexij Resni­kow seine deutsche Amtskol­le­gin Chris­ti­ne Lambrecht. Die SPD-Politi­ke­rin versprach bei ihrem ersten Ukrai­ne-Besuch seit Ausbruch des Kriegs die schnel­le Liefe­rung des moder­nen Flugab­wehr­sys­tems Iris‑T. Sonntag ist der 221. Tag des Krieges.

Russland gibt strate­gisch wichti­ge Stadt Lyman auf

Russland hat in einer weite­ren Nieder­la­ge gegen die ukrai­ni­sche Armee die strate­gisch wichti­ge Stadt Lyman im östli­chen Gebiet Donezk aufge­ge­ben. Die Streit­kräf­te seien wegen der Gefahr einer Einkes­se­lung abgezo­gen worden, sagte der Sprecher des russi­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, Igor Konaschen­kow, am Samstag in Moskau. Zuvor hatten ukrai­ni­sche Behör­den von rund 5000 einge­kes­sel­ten russi­schen Solda­ten gespro­chen. Über die Anzahl der Gefal­le­nen und Gefan­ge­nen gibt es bislang keine Angaben.

Mit dem Fall Lymans öffnet sich für die ukrai­ni­schen Truppen der Weg Richtung Kremin­na und Swatowe. Beide Städte liegen im Gebiet Luhansk und gelten — spezi­ell Swatowe — als wichti­ge Verkehrs­kno­ten­punk­te. Für den Kreml wäre dies ein verhee­ren­des Signal. Anfang des Sommers hatte die russi­sche Armee das Gebiet Luhansk für «befreit» erklärt.

Mehr als sieben Monate nach Kriegs­be­ginn hatte Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin am Freitag neben Donezk auch die ukrai­ni­schen Gebie­te Luhansk, Cherson und Saporischschja annek­tiert. Inter­na­tio­nal wird dieser völker­rechts­wid­ri­ge Schritt nicht anerkannt.

Schwe­re Vorwür­fe an russi­sche Militärführung

Auf russi­scher Seite sorgt die erneu­te Nieder­la­ge für erbit­ter­te Kommen­ta­re: Die einfluss­rei­che Blogge­rin und ehema­li­ge PR-Chefin des Duma-Vorsit­zen­den Wjatsches­law Wolodin, Anast­as­si­ja Kasche­wa­rowa, forder­te Antwor­ten von Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoi­gu und General­stabs­chef Waleri Geras­si­mow: «Weiß der Präsi­dent von den Vorfäl­len? Wer berich­tet ihm? Wo ist die Ausrüs­tung? Wo sind die (Panzer) Armata? Wo ist alles? Wie konnte das passie­ren? Einge­sackt? Verkauft? Wo ist es hin? Gab es das überhaupt?»

Der tsche­tsche­ni­sche Macht­ha­ber Ramsan Kadyrow wieder­um verlang­te, den für den Front­ab­schnitt verant­wort­li­chen General­oberst Alexan­der Lapin abzuset­zen, zu degra­die­ren und als einfa­chen Solda­ten an die Front zu schicken. Die Proble­me in Lyman seien schon vor zwei Wochen gemel­det worden. «Eine Woche später verlegt Lapin seinen Stab nach Staro­bilsk, mehr als 100 Kilome­ter von seinen Unter­ge­be­nen entfernt, und verdrückt sich selbst nach Luhansk. Wie kann man opera­tiv seine Einhei­ten befeh­li­gen, wenn man sich 150 Kilome­ter entfernt befin­det», echauf­fier­te sich Kadyrow. Er forder­te, den Einsatz von Atomwaf­fen mit gerin­ger Reich­wei­te in Betracht zu ziehen.

Selen­skyj spottet

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Selen­skyj reagier­te mit Spott auf die russi­sche Nieder­la­ge in Lyman und den Ärger in Moskau. Dort, wo die Russen zuvor ihre «Pseudo­re­fe­ren­den» abgehal­ten hätten, wehe nun wieder die ukrai­ni­sche Flagge, sagte der 44-Jähri­ge am Samstag in seiner tägli­chen Video­an­spra­che. Zugleich teilte er mit, dass in Lyman noch gekämpft werde.

«Übrigens haben sie dort schon angefan­gen, sich gegen­sei­tig zu beißen: Sie suchen nach den Schul­di­gen, beschul­di­gen einige Generä­le des Versa­gens», kommen­tier­te Selen­skyj die verär­ger­ten Reaktio­nen aus Moskau auf den Rückzug in Lyman. Es sei nur der erste Warnschuss für alle dieje­ni­gen, die sich an Putins Krieg betei­lig­ten. Bis sie nicht das Problem mit dem einen lösten, «der diesen für Russland sinnlo­sen Krieg gegen die Ukrai­ne begon­nen hat, werden Sie einer nach dem anderen getötet und zu Sünden­bö­cken gemacht», prophe­zei­te er.

CDU-Politi­ker angesichts Atom-Drohung für mehr Abschreckung

Angesichts der russi­schen Atomwaf­fen-Drohun­gen hält der CDU-Außen­po­li­ti­ker Roderich Kiese­wet­ter eine verstärk­te Abschre­ckung seitens der westli­chen Staaten für nötig. «Sicher müssen wir das ernst nehmen, und es besteht natür­lich immer ein solches Risiko», sagte er dem Berli­ner «Tages­spie­gel» mit Blick auf Drohun­gen Putins, notfalls «alle zur Verfü­gung stehen­den Mittel» zu nutzen. «Verhin­dern können wir dies aber, indem wir unsere eigene Abschre­ckung erhöhen und Putin mit Stärke und Geschlos­sen­heit entgegnen.»

Lambrecht verspricht Ukrai­ne schnel­le Waffenlieferungen

Vertei­di­gungs­mi­nis­te­rin Lambrecht ist zum ersten Mal seit Kriegs­be­ginn in die Ukrai­ne gereist. In der Hafen­stadt Odessa am Schwar­zen Meer wurde sie am Samstag von ihrem ukrai­ni­schen Amtskol­le­gen Resni­kow empfan­gen. Lambrecht sagte die Liefe­rung einer ersten Einheit des bereits verspro­che­nen boden­ge­stütz­ten Luftab­wehr­sys­tems Iris‑T SLM inner­halb weniger Tage zu. Die Minis­te­rin infor­mier­te sich im Hafen von Odessa über den Einsatz eines von der Bundes­re­gie­rung zur Verfü­gung gestell­ten Flugab­wehr­pan­zers vom Typ Gepard. Gleich zweimal musste sie wegen Luftalarms kurzzei­tig im Schutz­bun­ker Unter­schlupf suchen.

Was am Samstag wichtig wird

Trotz der jüngs­ten russi­schen Annexio­nen versucht die Ukrai­ne weiter, den besetz­ten Teil ihres Landes zu befrei­en. Nach der Rückerobe­rung Lymans dürfte sie den Fokus auf einen weite­ren Vormarsch im nördli­chen Donbass legen und versu­chen, im Gebiet Luhansk in Richtung der wichti­gen Verkehrs­kno­ten Swatowe und Kremin­na vorzustoßen.