ISTANBUL/MOSKAU/KIEW (dpa) — Moskau fährt Militär-Aktivi­tä­ten bei Kiew und Tscher­ni­hiw zurück +++ Der türki­sche Außen­mi­nis­ter bilan­ziert bedeu­ten­de Fortschrit­te in den Gesprä­chen +++ Ukrai­ne will Möglich­keit eines EU-Beitritts aushandeln.

Nach neuen Friedens­ge­sprä­chen mit der Ukrai­ne hat Russland zugesagt, seine Kampf­hand­lun­gen an der nördli­chen Front bei Kiew und Tscher­ni­hiw deutlich zurück­zu­fah­ren. Vize-Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Alexan­der Fomin sagte nach dem Treffen am Diens­tag in Istan­bul, seine Regie­rung wolle so Vertrau­en aufbau­en und weite­re Verhand­lun­gen ermög­li­chen. Moskaus Delega­ti­ons­lei­ter Wladi­mir Medin­ski lobte die mehrstün­di­gen Gesprä­che als konstruk­tiv. Russland sei daher bereit, Schrit­te zur Deeska­la­ti­on zu gehen.

Die ukrai­ni­sche Regie­rung forder­te nach dem Treffen erneut harte Garan­tien des Westens für seine Sicher­heit im Gegen­zug für einen mögli­chen neutra­len Status. Gebiets­ab­tre­tun­gen lehnte sie als indis­ku­ta­bel ab.

Der türki­sche Außen­mi­nis­ter Mevlüt Cavuso­glu bilan­zier­te nach dem Treffen in Istan­bul, es seien bedeu­ten­de Fortschrit­te erzielt worden. Der Krieg müsse «jetzt enden». Es wird keine Forset­zung der Verhand­lun­gen an diesem Mittwoch geben.

Moskau hatte sein Nachbar­land Ukrai­ne nach einem monate­lan­gen Truppen­auf­marsch an den Grenzen am 24. Febru­ar überfal­len. Vor einigen Tagen hatte Russlands Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um mitge­teilt, sich nun auf die komplet­te Erobe­rung des Donbass in der Ostukrai­ne zu konzen­trie­ren, wo schon seit 2014 gekämpft wird.

Moskau erwar­tet neutra­len Status der Ukraine

Fomin sagte nach dem Treffen in Istan­bul, die Ukrai­ne berei­te einen Vertrag vor über einen neutra­len Status ohne Atomwaf­fen. Seine Regie­rung gehe davon aus, dass die Ukrai­ne dazu entspre­chen­de Entschei­dun­gen treffe. Die ukrai­ni­schen Vorschlä­ge werden nach Angaben der russi­schen Delega­ti­ons­lei­tung nun geprüft, dem Präsi­den­ten Wladi­mir Putin vorge­legt und «entspre­chend beantwortet».

Das ukrai­ni­sche Delega­ti­ons­mit­glied David Aracha­mi­ja sagte zu den gefor­der­ten Sicher­heits­ga­ran­tien, diese sollten von den ständi­gen Mitglie­dern des UN-Sicher­heits­rats wie den USA, Frank­reich, Großbri­tan­ni­en, China oder Russland kommen. Dazu kommen könnten auch die Türkei, Deutsch­land, Kanada, Itali­en, Polen, Israel und andere Länder. Formu­liert sein sollten sie ähnlich wie der Artikel fünf des Nato-Vertra­ges. Demnach sind die Mitglie­der des Militär­bünd­nis zum sofor­ti­gen militä­ri­schen Beistand im Falle eines Angriffs auf einen der Partner verpflichtet.

Kiew: Gebiets­ab­tre­tun­gen indiskutabel

Gebiets­ab­tre­tun­gen seien für Kiew weiter indis­ku­ta­bel, sagte Aracha­mi­ja. «Wir erken­nen nur die Grenzen der Ukrai­ne an, die von der Welt mit Stand 1991 anerkannt sind», beton­te der Frakti­ons­vor­sit­zen­de der Präsidentenpartei.

Präsi­den­ten­be­ra­ter Mycha­j­lo Podol­jak sagte, dass die Frage der von Russland annek­tier­ten ukrai­ni­schen Schwarz­meer-Halbin­sel Krim nach dem Ende der Kampf­hand­lun­gen disku­tiert werden solle, und zwar inner­halb von 15 Jahren. Ebenso ausge­schlos­sen von einer aktuel­len Friedens­lö­sung solle der Status der von moskau­treu­en Separa­tis­ten beherrsch­ten Gebie­te Donezk und Luhansk im Donbass werden.

Unter­händ­ler der Ukrai­ne und Russlands hatten sich zuvor schon dreimal im Grenz­ge­biet von Belarus getrof­fen, danach gab es regel­mä­ßi­ge Videoschalten.

Russlands schien am Nachmit­tag seine Ankün­di­gung in die Tat umzuset­zen: Der ukrai­ni­sche General­stab teilte mit, im Gebiet um die Haupt­stadt Kiew und die nordukrai­ni­sche Großstadt Tscher­ni­hiw werde der Abzug einzel­ner russi­scher Einhei­ten beobach­tet. In den Wochen zuvor waren bei Angrif­fen auf Tscher­ni­hiw nach Angaben örtli­cher Behör­den bereits mehr als 350 Menschen ums Leben gekommen.

EU-Beitritt und Nato-Verzicht

Russlands Unter­händ­ler Wladi­mir sagte, die Ukrai­ne wolle die Möglich­keit eines EU-Beitritts im Gegen­zug für Zugeständ­nis­se an Moskau aushan­deln. Der ukrai­ni­sche Vorschlag sehe vor: «Die Russi­sche Födera­ti­on hat keine Einwän­de gegen Bestre­bun­gen der Ukrai­ne, der Europäi­schen Union beizu­tre­ten», sagte Medin­ski. Kiew wieder­um habe den von Moskau gefor­der­ten Verzicht auf einen Nato-Beitritt unter Gewähr­leis­tung von Sicher­heits­ga­ran­tien in Aussicht gestellt.

Kämpfe in der Ukrai­ne gehen weiter

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj hatte am Morgen berich­tet, russi­sche Einhei­ten seien aus der wochen­lang umkämpf­ten Stadt Irpin bei Kiew zurück­ge­schla­gen worden. Die Kämpfe dauer­ten jedoch dort und auch in anderen Landes­tei­len an. Russi­sche Truppen hielten dem Präsi­den­ten zufol­ge den Norden des Kiewer Gebiets unter Kontrol­le. Sie versuch­ten, zerschla­ge­ne Einhei­ten wieder aufzu­bau­en. Auch in den Gebie­ten Tscher­ni­hiw, Sumy, Charkiw, Donbass und im Süden der Ukrai­ne bleibe die Lage «sehr schwie­rig». Selen­skyj forder­te erneut schär­fe­re Sanktio­nen gegen Russland.

In einer Video­schal­te im dänischen Parla­ment sprach Selen­skyj außer­dem über die Lage in der belager­ten Hafen­stadt Mariu­pol. Was die russi­schen Truppen dort machten, sei ein Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit. Er fragte, warum die Welt nicht einge­grif­fen habe.

Kreml droht weiter mit Einstel­lung von Gaslieferungen

Der Kreml erhielt auch die Drohung aufrecht, Russland könne die Gaslie­fe­run­gen nach Westeu­ro­pa einstel­len, wenn die Abneh­mer­län­der — darun­ter Deutsch­land — die Forde­rung weiter ableh­nen, in Rubel statt in Dollar und Euro zu zahlen. Dies würde die wegen vieler harter Sanktio­nen unter Druck gerate­ne Währung stützen, weil sich der Westen Rubel beschaf­fen müsste.

«Keine Bezah­lung — kein Gas», sagte Kreml­spre­cher Dmitri Peskow dem ameri­ka­ni­schen TV-Sender PBS. Moskau wolle die endgül­ti­ge Antwort der EU abwar­ten und dann die nächs­ten Schrit­te festlegen.

Kreml­spre­cher Peskow trat zugleich Speku­la­tio­nen entge­gen, Moskau könne im Ukrai­ne-Krieg Atomwaf­fen einset­zen. «Niemand in Russland denkt an den Einsatz oder auch nur an die Idee eines Einsat­zes von Atomwaf­fen», sagte er im PBS-Inter­view. Russland greife zum Atomwaf­fen­ar­se­nal nur bei einer «Bedro­hung der Existenz». Die staat­li­che Existenz Russlands und die Ereig­nis­se in der Ukrai­ne hätten «nichts mitein­an­der zu tun». Die Sorge im Westen über mögli­che Atomwaf­fen­plä­ne Moskaus war gestie­gen, als Putin zum Auftakt des Angriffs­krie­ges in der Ukrai­ne eine erhöh­te Alarm­be­reit­schaft der russi­schen Nukle­ar­streit­kräf­te anordnete.

Ukrai­ne: Viele Männer kehren zurück

Seit Beginn des Kriegs sind nach Angaben der ukrai­ni­schen Grenz­po­li­zei rund 510.000 Menschen aus dem Ausland zurück­ge­kehrt. Allein in der vergan­ge­nen Woche seien es 110.000 Menschen gewesen, sagte ein Sprecher der Tages­zei­tung «Welt». Acht von zehn Einrei­sen­den seien Männer.

Vor Beginn des Krieges lebten rund 44 Millio­nen Menschen in der Ukrai­ne. Rund 3,9 Millio­nen Menschen sind nach Angaben des UN-Flücht­lings­hilfs­wer­kes UNHCR ins Ausland geflüchtet.