KIEW (dpa) — Nach Angaben aus Kiew werden in den befrei­ten Gebie­ten immer mehr Bewei­se für Gräuel­ta­ten der russi­schen Armee gefun­den. Russland soll derweil irani­sche Drohnen selbst nachbauen.

Die ukrai­ni­schen Behör­den stoßen in befrei­ten Gebie­ten rund um Cherson, Charkiw und Donezk nach offizi­el­ler Darstel­lung auf immer mehr Bewei­se für Gräuel­ta­ten der einsti­gen russi­schen Besatzer.

In den vergan­ge­nen zwei Monaten seien in diesen Gebie­ten über 700 Leichen entdeckt worden, sagte General­staats­an­walt Andrij Kostin am Samstag­abend im Staats­fern­se­hen. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilis­ten gehan­delt. Zur Vertei­di­gung gegen den Aggres­sor Russland sagte Großbri­tan­ni­en der ukrai­ni­schen Regie­rung zusätz­li­che Militär­hil­fe zu, wofür sich Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj bei einem Überra­schungs­gast aus London bedankte.

In der Ukrai­ne arbei­ten Techni­ker derweil fieber­haft daran, die Schäden der russi­schen Angrif­fe zu besei­ti­gen und die Strom­ver­sor­gung im Land wieder­her­zu­stel­len. Als Zeichen für die angestreb­te Norma­li­sie­rung des Lebens in den zuvor besetz­ten Gebie­ten wurde die Wieder­auf­nah­me des Bahnver­kehrs zwischen Kiew und der befrei­ten Stadt Cherson gefei­ert — dort traf erstmals nach gut acht Monaten wieder ein Zug aus der Haupt­stadt ein. Im Osten der Ukrai­ne tobten derweil weiter schwe­re Kämpfe zwischen russi­schen und ukrai­ni­schen Truppen.

«Jeden Tag erhal­ten wir neue Informationen»

«Wir haben praktisch in fast jedem Dorf in der Region Charkiw Stellen gefun­den, an denen sie fried­li­che Zivilis­ten getötet haben», sagte General­staats­an­walt Kostin im Fernse­hen. Ähnli­che Funde würden die Ermitt­ler jetzt in der vor kurzem befrei­ten Region Cherson in der Südukrai­ne machen. Auch seien etwa 20 Orte entdeckt worden, an denen Zivilis­ten verhört und in Gefan­gen­schaft gehal­ten wurden. «Und jeden Tag erhal­ten wir neue Infor­ma­tio­nen», sagte Kostin. Derar­ti­ge Angaben der Kriegs­par­tei­en lassen sich kaum unabhän­gig überprüfen.

Selen­skyj posiert mit Sunak vor erbeu­te­ten Panzern

Am Samstag empfing Selen­skyj den briti­schen Premier­mi­nis­ter Rishi Sunak zum unange­kün­dig­ten Besuch in Kiew. Sein Gast versprach der Ukrai­ne weite­re Hilfen: Diese sollen sich auf umgerech­net knapp 57,5 Millio­nen Euro belau­fen, 125 Geschüt­ze zur Flugab­wehr sowie Technik zur Drohnen­ab­wehr umfas­sen und zum Schutz der Bevöl­ke­rung und Infra­struk­tur beitra­gen. Anfang Novem­ber hatte das briti­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um bereits eine Liefe­rung von 1000 Flugab­wehr­ra­ke­ten zugesagt.

Sunak und Selen­skyj posier­ten in Kiew bei leich­tem Schnee­fall vor erbeu­te­ten russi­schen Panzern. «Danke, Rishi, Herr Premier­mi­nis­ter, für Ihre Bereit­schaft, die Freiheit noch stärker mit uns zu vertei­di­gen», sagte Selen­skyj am Abend in seiner tägli­chen Videoansprache.

Selen­skyj: Weiter Proble­me mit der Stromversorgung

Trotz fortdau­ern­der russi­scher Raketen- und Luftan­grif­fe auf die Energie­infra­struk­tur der Ukrai­ne hat die Wieder­her­stel­lung der Strom­ver­sor­gung im Land nach Worten von Selen­skyj höchs­te Priori­tät. «Wir arbei­ten im ganzen Land daran, die Lage zu stabi­li­sie­ren», sagte er am Samstag­abend. «Die meisten Proble­me mit Elektri­zi­tät gibt es in Kiew und Umgebung, Odessa und Umgebung, Charkiw und Umgebung.» Alles werde getan, «um den Menschen ein norma­les Leben zu ermöglichen».

Russland hatte Anfang dieser Woche mit massi­ven Angrif­fen auf die Energie-Infra­struk­tur landes­wei­te Strom­aus­fäl­le in der Ukrai­ne verur­sacht. Zeitwei­se waren rund zehn Millio­nen Menschen ohne Strom. Laut Selen­skyj sind rund 50 Prozent der Energie­infra­struk­tur zerstört oder beschä­digt. Moskau will den Nachbarn mit diesen Angrif­fen vor dem herein­bre­chen­den Winter weiter unter Druck setzen.

Produ­ziert Russland irani­sche Drohnen künftig selbst?

Russland hat laut einem US-Medien­be­richt ein Abkom­men mit dem Iran geschlos­sen, um irani­sche Angriffs­droh­nen für den Krieg gegen die Ukrai­ne im eigenen Land herzu­stel­len. Derzeit werde daran gearbei­tet, die Produk­ti­on binnen Monaten in Gang zu bringen, schrieb die «Washing­ton Post» unter Berufung auf Geheim­dienst­in­for­ma­tio­nen. Die Verein­ba­rung sei Anfang Novem­ber im Iran ausge­han­delt worden.mDie russi­sche Armee setzt die Drohnen unter anderem für Angrif­fe auf die ukrai­ni­sche Energie­infra­struk­tur ein.

Zugver­bin­dung von Kiew nach Cherson wiederhergestellt

In der kürzlich befrei­ten Stadt Cherson fuhr am Samstag zum ersten Mal nach gut acht Monaten ein Zug aus Kiew ein. 200 Passa­gie­re hatten Fahrkar­ten unter dem Motto «Zum Sieg» ergat­tert, wie ukrai­ni­sche Medien berich­te­ten. Die sieben Waggons waren von Künst­lern bunt bemalt worden. Am Bahnhof bejubel­ten hunder­te Schau­lus­ti­ge mit ukrai­ni­schen Landes­fah­nen die Ankunft des Sonderzugs.

Die Bahnver­bin­dung zwischen Kiew und Cherson war unmit­tel­bar nach Kriegs­be­ginn am 24. Febru­ar infol­ge des Einmarschs russi­scher Solda­ten unter­bro­chen worden. Die Region am Dnipro wurde erst vor kurzem befreit, nachdem die ukrai­ni­schen Militärs die russi­schen Besat­zer zum Rückzug über den Fluss gezwun­gen hatten.

In Cherson begann am Samstag eine Aktion zur freiwil­li­gen Umsied­lung von Zivilis­ten in siche­re Gebie­te im Westen des Landes. Helfer seien bereit, alle Perso­nen, die dies wünsch­ten, in andere Landes­tei­le zu bringen, wo die Regie­rung für Unter­kunft und Versor­gung garan­tie­re, berich­te­te die «Ukrajins­ka Prawda» unter Berufung auf die Behörden.

Kiew: Mehr russi­sche Truppen in Luhansk

Die russi­schen Streit­kräf­te erhöhen nach Erkennt­nis­sen des ukrai­ni­schen General­stabs ihre Truppen­prä­senz im Gebiet Luhansk. Um die vielen Solda­ten unter­zu­brin­gen, werde ein Teil der Zivil­be­völ­ke­rung zwangs­um­ge­sie­delt, erklär­te der General­stab in Kiew am Samstag. Die ostukrai­ni­sche Region Luhansk grenzt an Russland.

Unter­des­sen setzten russi­sche und ukrai­ni­sche Truppen an einer Vielzahl von Brenn­punk­ten ihre Kämpfe fort. Dabei wurden dem General­stab zufol­ge Panzer, Rohr- und Raketen­ar­til­le­rie sowie Granat­wer­fer einge­setzt. Nach Darstel­lung des ukrai­ni­schen Militärs wurden dabei allein in der Region Mycha­j­low­ka in der Region Saporischschja bis zu 60 russi­sche Solda­ten getötet oder verwun­det. Russi­sche Militärs wieder­um sprachen von ukrai­ni­schen Raketen­an­grif­fen auf das Atomkraft­werk Saporischschja. Auch diese Angaben konnten nicht unabhän­gig überprüft werden.

Das wird am Sonntag wichtig

In Polen soll am Sonntag das zweite Todes­op­fer des jüngs­ten Raketen­ein­schlags auf dem Gelän­de eines Getrei­de­spei­chers im Grenz­ge­biet zur Ukrai­ne mit einem Staats­be­gräb­nis beigesetzt werden. In dem nur sechs Kilome­ter von der Grenze entfern­ten Dorf Przewo­dow war am Diens­tag eine Rakete einge­schla­gen, die neben dem 62-jähri­gen Traktor­fah­rer auch einen Lager­ver­wal­ter tötete. Der 60-Jähri­ge wurde bereits am Samstag mit einem Staats­be­gräb­nis unter Auschluss der Öffent­lich­keit in Przewo­dow beigesetzt.