KIEW (dpa) — Wie weit wird die Ukrai­ne gehen bei der Rückerobe­rung ihres Landes? Manche westli­che Politi­ker befürch­ten eine Eskala­ti­on, wenn es um die Krim geht. Präsi­dent Selen­skyj hat dazu eine klare Meinung.

Angesichts von Kälte und Dunkel­heit in ukrai­ni­schen Städten infol­ge der massi­ven Black­outs hat Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj den Wider­stands­geist seines Volkes gegen die russi­sche Invasi­on beschwo­ren. «Wir haben neun Monate lang einen umfas­sen­den Krieg überstan­den, und Russland hat keinen Weg gefun­den, uns zu brechen. Und es wird keinen finden», sagte Selen­skyj am Donners­tag in seiner abend­li­chen Video­an­spra­che. «Wir müssen so weiter­ma­chen wie jetzt gerade, in Einig­keit und gegen­sei­ti­ger Hilfe.» Russland war am 24. Febru­ar in das Nachbar­land einmarschiert.

Die Wieder­her­stel­lung von Strom- und Wasser­ver­sor­gung nach dem schwe­ren Raketen­an­griff vom Mittwoch dauer­te den ganzen Donners­tag und in die Nacht zum Freitag an. «Russland will nicht nur, dass die Ukrai­ner ohne Strom und Wärme sind», sagte Selen­skyj in Kiew. «Die Terro­ris­ten wollen uns vonein­an­der isolie­ren und dafür sorgen, dass wir einan­der nicht spüren.» Durch russi­schen Beschuss auf die Stadt Cherson in der Südukrai­ne wurden 7 Menschen getötet und etwa 20 verletzt, wie die regio­na­len Behör­den mitteil­ten. Am Freitag ist für die Ukrai­ne der 275. Tag im Abwehr­kampf gegen die Invasion.

Techni­ker reparie­ren rund um die Uhr

Auch wenn es in vielen ukrai­ni­schen Haushal­ten noch keinen Strom, Wasser oder Heizung gab, melde­ten die Behör­den Fortschrit­te bei der Wieder­her­stel­lung der Versor­gung. Das Strom­netz erhole sich von dem Black­out am Mittwoch. Die Hälfte des Bedarfs könne wieder gedeckt werden, teilte der Netzbe­trei­ber Ukren­er­ho am Donners­tag­abend mit.

Die meisten Wärme­kraft­wer­ke und Wasser­kraft­wer­ke produ­zier­ten wieder Strom. Die notab­ge­schal­te­ten Kernkraft­wer­ke kehrten ans Netz zurück. Auch das russisch besetz­te AKW Saporischschja wurde nach Angaben der Inter­na­tio­na­len Atomener­gie­be­hör­de (IAEA) wieder von außen mit Strom versorgt und war nicht auf Diesel­ge­ne­ra­to­ren angewiesen.

Angespannt blieb die Lage in der Haupt­stadt Kiew. Dort hatten nach Angaben des Versor­gers DTEK nur 30 Prozent der Haushal­te Strom. Das Licht könne vorerst nur für zwei, drei Stunden einge­schal­tet werden.

«Mit Stand heute Abend gibt es in 15 Regio­nen immer noch Proble­me mit dem Wasser», sagte Selen­skyj. Die Angrif­fe auf zivile Ziele seien «die Rache derje­ni­gen, die verlo­ren haben», sagte er. «Sie wissen nicht, wie man kämpft. Das Einzi­ge, was sie tun können, ist zu terro­ri­sie­ren. Ob Energie­ter­ror, Artil­le­rie­ter­ror oder Raketen­ter­ror — dazu ist Russland unter seiner derzei­ti­gen Führung herun­ter­ge­kom­men.» Nur die Befrei­ung des gesam­ten Landes und Sicher­heits­ga­ran­tien könnten die Ukrai­ner dauer­haft vor Russland schützen.

Befrei­te Stadt Cherson wird beschossen

Der Lagebe­richt des ukrai­ni­schen General­stabs sprach am Donners­tag von andau­ern­den schwe­ren Kämpfen im Donbass in der Ostukrai­ne. Die russi­schen Truppen versuch­ten weiter­hin einen Durch­bruch bei Bachmut und bei Awdijiwka.

Selen­skyj sagte, die erst kürzlich von ukrai­ni­schen Truppen befrei­te Stadt Cherson werde fast stünd­lich beschos­sen. Am Donners­tag schos­sen russi­sche Truppen mit Artil­le­rie und Mehrfach­ra­ke­ten­wer­fern auf die Stadt in der Südukrai­ne ein und töteten 7 Menschen. Etwa 20 Menschen seien verletzt worden, teilte Gebiets­gou­ver­neur Jaros­law Janusche­wytsch mit. «Der heuti­ge Tag ist eine weite­re schreck­li­che Seite in der Geschich­te unserer Heldenstadt.»

Unter dem Druck ukrai­ni­scher Angrif­fe hatten russi­sche Truppen Cherson und ihren Brücken­kopf auf dem nordwest­li­chen Ufer des Dnipro Mitte Novem­ber geräumt. Die Russen halten aber Stellun­gen auf dem anderen Ufer des Flusses und setzen von dort ihre Artil­le­rie ein.

Selen­skyj: Befrei­ung der Krim bleibt Kriegsziel

Trotz westli­cher Skepsis hält Selen­skyj an einer Befrei­ung der 2014 von Russland annek­tier­ten Halbin­sel Krim als Kriegs­ziel fest. «Wenn uns jemand einen Weg aufzeigt, wie die Beset­zung der Krim mit nicht-militä­ri­schen Mitteln beendet werden kann, dann werde ich sehr dafür sein», sagte er der briti­schen Zeitung «Finan­cial Times». Wenn ein Vorschlag aber bedeu­te, dass die Krim besetzt und Teil Russlands bleibe, «sollte niemand darauf seine Zeit verschwenden».

Westli­che Unter­stüt­zer der Ukrai­ne gehen davon aus, dass diese irgend­wann die von Russland seit dem 24. Febru­ar besetz­ten Gebie­te sowie den Donbass zurück­er­obern kann. Sie sind aber vorsich­ti­ger bei der Krim: Die Halbin­sel sei für Moskau strate­gisch und symbo­lisch so wichtig, dass eine Eskala­ti­on des Krieges zu befürch­ten sei.

Lukaschen­ko schließt Einsatz seiner Armee aus

Der autori­tä­re belarus­si­sche Staats­chef Alexan­der Lukaschen­ko schließt einen direk­ten Einsatz seiner Armee im russi­schen Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne aus. «Wenn wir uns unmit­tel­bar mit den Streit­kräf­ten, mit Solda­ten in diesen Konflikt einmi­schen, tragen wir nichts bei, wir machen es nur noch schlim­mer», sagte Lukaschen­ko nach einer Meldung der Agentur Belta vom Donners­tag. Belarus unter­stüt­ze Russland, seine Rolle sei aber eine andere.

Lukaschen­ko hat sein von Moskau abhän­gi­ges Land als Aufmarsch­ge­biet für russi­sche Truppen zur Verfü­gung gestellt. Die Ukrai­ne betrach­tet das Nachbar­land deshalb als Kriegs­par­tei und hält Truppen in Reser­ve für den Fall, einen direk­ten Angriff aus Belarus abweh­ren zu müssen.

Der russi­sche Präsi­dent Wladi­mir Putin sagte in Moskau, Russland brauche zur Versor­gung seiner Streit­kräf­te in dem Konflikt keine Kriegs­wirt­schaft. Die Rüstungs­in­dus­trie solle die Truppe schnel­ler und mit besse­ren Produk­ten belie­fern, forder­te er. Dafür seien aber keine außer­or­dent­li­chen Maßnah­men notwen­dig. «Man muss die Arbeit nur genau, quali­tät­voll, gut koordi­niert organi­sie­ren», wurde er von der staat­li­chen Agentur Tass zitiert.

Das wird am Freitag wichtig

Putin will sich am Freitag mit den Müttern von Solda­ten treffen, die in der Ukrai­ne einge­setzt sind oder sich darauf vorbe­rei­ten. Der Kreml teilte mit, einge­la­den seien Mütter von Berufs- und Zeitsol­da­ten, von Freiwil­li­gen und einbe­ru­fe­nen Reser­vis­ten. Nach der Teilmo­bil­ma­chung haben sich Mütter in einigen Regio­nen beschwert, dass ihre Söhne schlecht ausge­rüs­tet in den Kampf geschickt würden.