KIEW (dpa) — Russi­schen Raketen zum Trotz haben die Ukrai­ner das neue Jahr bei Licht empfan­gen. Präsi­dent Selen­skyj hatte eine Silves­ter­bot­schaft, Russland schickt derweil «Kamika­ze-Drohnen». Ein Überblick.

Nach den jüngs­ten russi­schen Raketen­an­grif­fen auf ukrai­ni­sche Städte mit weite­ren Zerstö­run­gen hat sich Staats­chef Wolodym­yr Selen­skyj direkt an das russi­sche Volk gewandt.

«Einem terro­ris­ti­schen Staat wird nicht verge­ben», sagte er am Samstag in seiner Video­bot­schaft. «Und denen, die solche Angrif­fe befeh­len, und denen, die sie ausfüh­ren, wird nicht verzie­hen, um es milde auszu­drü­cken.» Kurz vor und auch nach dem Jahres­wech­sel griffen russi­sche «Kamika­ze-Drohnen» an, im Süden und Osten der Ukrai­ne sowie in Kiew wurde Luftalarm ausge­löst. In der Haupt­stadt gab es mehre­re Explo­sio­nen. Größe­re Schäden oder Opfer wurden zunächst nicht bekannt.

Selen­skyj an Russland: Ukrai­ne wird niemals vergeben

Auf Russisch erklär­te Selen­skyj in seiner Anspra­che, dass das Nachbar­land keinen Krieg mit der gesam­ten Nato führe, «wie Ihre Propa­gan­dis­ten lügen». Der Krieg diene auch keinen histo­risch bedeut­sa­men Zielen. «Er (der Krieg) ist für eine Person, die bis an ihr Lebens­en­de an der Macht bleibt», sagte er in Anspie­lung auf Kreml­chef Wladi­mir Putin. «Und was von Ihnen allen übrig bleibt, Bürger Russlands, geht ihn nichts an.»

Putin wolle zeigen, dass er das Militär anfüh­re und dessen Rücken­de­ckung habe. «Aber er versteckt sich nur», sagte Selen­skyj. «Er versteckt sich hinter dem Militär, hinter Raketen, hinter den Mauern seiner Residen­zen und Paläs­te, er versteckt sich hinter euch und verbrennt euer Land und eure Zukunft.» Niemand werde Russland jemals den Terror verzei­hen, sagte Selen­skyj. «Niemand auf der Welt wird euch das verzei­hen. Die Ukrai­ne wird euch niemals vergeben.»

In einer weite­ren Video­bot­schaft sagte Selen­skyj später: «Die Ukrai­ne hat ihre Söhne und Töchter nicht verlo­ren — sie wurden von Mördern wegge­bracht.» Das Land sei von Eindring­lin­gen überfal­len worden. «Die Welt hat den Frieden nicht verlo­ren — Russland hat ihn zerstört.»

Russlands Armee war am 24. Febru­ar in die Ukrai­ne einmar­schiert — unter dem Vorwand, das Nachbar­land «entna­zi­fi­zie­ren und entmi­li­ta­ri­sie­ren» zu wollen. In dem Krieg, der in Russland nicht so genannt werden darf und auch nach mehr als zehn Monaten offizi­ell als «militä­ri­sche Spezi­al­ope­ra­ti­on» firmiert, sind bisher Zehntau­sen­de Menschen ums Leben gekom­men. Präzi­se Zahlen dazu gibt es von unabhän­gi­ger Seite nicht.

Neue russi­sche Drohnen­an­grif­fe gemeldet

Unmit­tel­bar vor dem Jahres­wech­sel wurden in der Ukrai­ne einflie­gen­de «Kamika­ze-Drohnen» aus Russland gemel­det, die dazu gedacht sind, mit hoher Geschwin­dig­keit auf Ziele herab­zu­stür­zen. Für die Städte Odessa und Mykola­jiw im Süden sowie Dnipro im Zentrum des Landes wurde Luftalarm ausge­löst, wie die Agentur Unian berich­te­te. Später wurde der Alarm auch auf den Osten der Ukrai­ne ausge­wei­tet. Der Militär­ver­wal­ter von Mykola­jiw, Vitali Kim, berich­te­te von zwei Forma­tio­nen von Drohnen, die in seinem Gebiet gesich­tet worden seien. Die Luftab­wehr habe das Feuer auf die Schahed-Drohnen aus irani­scher Produk­ti­on eröff­net. Auch nach dem Jahres­wech­sel gab es dann wieder Luftalarm.

Putins Dekret über 137.000 zusätz­li­che Solda­ten in Kraft getreten

Mehr als zehn Monate nach Beginn von Moskaus Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne erhöht sich mit Beginn des neuen Jahres in Russland die Zahl der Militärs um 137.000 Solda­ten. Ein entspre­chen­des Dekret über die bereits im August von Kreml­chef Wladi­mir Putin angeord­ne­te Erhöhung auf rund 1,15 Millio­nen Vertrags­sol­da­ten und Wehrdienst­leis­ten­de trat am Sonntag offizi­ell in Kraft. Demnach soll die Armee­stär­ke insge­samt mehr als zwei Millio­nen Menschen umfas­sen. Bei den restli­chen Militär­an­ge­hö­ri­gen handelt es sich um ziviles Perso­nal, darun­ter etwa Verwaltungsangestellte.

Im Septem­ber hatte der russi­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Sergej Schoi­gu gesagt, dass neue Einhei­ten entstün­den. Der Minis­ter warf den westli­chen Staaten mit den USA an der Spitze vor, einen Kurs gegen Russland und seine Verbün­de­ten zu fahren; damit begrün­de­te er den Anstieg bei der Zahl der Solda­ten. «Der Block der Nato bewegt sich weiter auf die russi­schen Grenzen zu», hatte Schoi­gu gesagt.

Selen­sky­js Neujahrs-Glück­wün­sche an Ukrainer

In einer kurzen Silves­ter­bot­schaft wünsch­te Präsi­dent Selen­skyj seinen Lands­leu­ten ein frohes neues «Jahr unseres Sieges», wie er es nannte. «Heute Wunder wünschen? Die Ukrai­ner haben sie schon lange geschaf­fen», beton­te Selen­skyj. Dazu veröf­fent­lich­te er auf Insta­gram ein Foto von sich und seiner Frau Olena vor einem beschei­den geschmück­ten Weihnachts­baum. In seiner Neujahrs­bot­schaft fanden sich weite­re politi­sche Unter­tö­ne. «Sich echte Freun­de wünschen? Wir haben bereits mit Sicher­heit heraus­ge­fun­den, wer sie sind», sagte Selen­skyj — und meinte damit offen­kun­dig die Unter­stüt­zer der Ukrai­ne im Krieg gegen Russland. Mit leich­ter Ironie und Hinweis auf die wieder­hol­ten Angrif­fe auf das ukrai­ni­sche Strom­netz erklär­te er: «Willst du Licht? Es ist in jedem von uns, auch wenn es keinen Strom gibt.»

Putin hält Neujahrs­re­de umgeben von Soldaten

Russlands Präsi­dent Putin ließ seine Neujahrs­an­spra­che in Kriegs­zei­ten diesmal umgeben von Solda­ten aufzeich­nen. «Es war ein Jahr schwie­ri­ger, notwen­di­ger Entschei­dun­gen, wichti­ger Schrit­te zum Erhalt der vollen Souve­rä­ni­tät Russlands und mit einer gewal­ti­gen Konso­li­die­rung in unserer Gesell­schaft», sagte Putin in der am Samstag ausge­strahl­ten Rede. Zugleich warf er dem Westen «Lügen» vor. «Die westli­chen Eliten haben uns allen jahre­lang heuch­le­risch ihre fried­li­chen Absich­ten versi­chert, darun­ter zur Lösung des schwers­ten Konflikts im Donbass», sagte Putin. «Der Westen hat gelogen, was den Frieden angeht und sich auf eine Aggres­si­on vorbe­rei­tet. Und er schämt sich heute nicht einmal mehr, das offen zuzugeben.»

Energie­ver­sor­gung der Ukrai­ne trotz Schäden stabil

Das neue Jahr konnten die Ukrai­ner trotz der durch russi­sche Raketen­an­grif­fe angerich­te­ten Schäden größten­teils bei Licht begrü­ßen. Die Energie­ver­sor­ger hatten die Anwei­sung erhal­ten, Privat­haus­hal­te zum Neujahrs­fest bevor­zugt mit Strom zu versor­gen. Am Samstag herrsch­te in den Super­märk­ten in Kiew nach dem dreistün­di­gen Luftalarm großer Andrang. Die Bewoh­ner der Haupt­stadt deckten sich kurz vor dem Fest noch mit Lecke­rei­en und dem tradi­tio­nel­len Sekt ein.

Trotz des Feier­tags wurde die in Kiew und den meisten Gebie­ten ab 23 Uhr Ortszeit (22 Uhr MEZ) gelten­de Sperr­stun­de nicht aufge­ho­ben. In westli­che­ren Gebie­ten wie Lwiw (Lemberg), Tscher­niw­zi (Czerno­witz), Winnyz­ja, Chmel­nyz­kyj und Riwne galt die Ausgangs­sper­re erst ab Mitter­nacht. Ledig­lich in der westlichs­ten Region Trans­kar­pa­ti­en, die an Rumäni­en, Ungarn, die Slowa­kei und Polen grenzt, gab es keine Ausgangs­sper­re. Generell galt landes­weit ein Verbot für Feuerwerkskörper.