KIEW (dpa) — 14 Mal hat Russland seit Oktober ihr Energie­netz mit Raketen beschos­sen. Präsi­dent Selen­skyj macht seinen Lands­leu­ten mit Berich­ten aus Europa Mut. Die aktuel­len Entwicklungen.

Die jüngs­te Welle russi­scher Raketen­an­grif­fe erzwingt erneut Notre­pa­ra­tu­ren am ukrai­ni­schen Energienetz.

Mehre­re Wärme- und Wasser­kraft­wer­ke seien beschä­digt worden, sagte der Chef des Energie­ver­sor­gers Ukren­er­ho, Wolodym­yr Kudryz­kyj, am Freitag­abend im ukrai­ni­schen Fernse­hen. Beson­ders schlecht sehe es mit der Strom­ver­sor­gung im Gebiet Charkiw aus. Wegen der Insta­bi­li­tät im ukrai­ni­schen Strom­netz musste am AKW Chmel­nyz­kyj ein Reaktor­block abgeschal­tet werden, in den Kernkraft­wer­ken Riwne und Südukrai­ne wurde die Produk­ti­on gedrosselt.

Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj verur­teil­te den russi­schen Angriff mit etwa 100 Raketen und Marsch­flug­kör­pern vom Freitag als Terror. In einer Video­bot­schaft berich­te­te er aber seinen Lands­leu­ten, wie viel Unter­stüt­zung die Ukrai­ne bei seiner Reise nach London, Paris und Brüssel in dieser Woche erfah­ren habe.

Am 24. Febru­ar wird seit einem Jahr Krieg herrschen. US-Präsi­dent Joe Biden kündig­te einen Besuch beim wichti­gen Ukrai­ne-Unter­stüt­zer Polen kurz vor dem Jahres­tag an.

Kiew: Russland setzte 71 Marsch­flug­kör­per ein

Die Gefahr durch russi­sche Raketen­an­grif­fe dauer­te auch in der Nacht zu Samstag an. In der Haupt­stadt Kiew wurde am späten Freitag­abend zum fünften Mal für diesen Tag Luftalarm ausge­löst. «Es droht ein Angriff mit Drohnen», teilte die Militär­ver­wal­tung des Kiewer Gebie­tes mit. Kampf­droh­nen irani­scher Bauart wurden auch über den Gebie­ten Mykola­jiw und Odessa im Süden gesich­tet und abgeschossen.

Nach Angaben des ukrai­ni­schen General­stabs setzte die russi­sche Armee bei den Angrif­fen seit Freitag­mor­gen 71 Marsch­flug­kör­per ein. 61 davon seien abgefan­gen worden. Die Marsch­flug­kör­per seien von russi­schen Schif­fen im Schwar­zen Meer und von Flugzeu­gen aus abgefeu­ert worden. Außer­dem habe Russland nach vorläu­fi­ger Zählung 29 Raketen des eigent­lich zur Luftab­wehr bestimm­ten Systems S‑300 gegen Boden­zie­le in der Ukrai­ne einge­setzt. Unabhän­gig überprüf­bar waren die Angaben nicht.

Repara­tu­ren am Stromnetz

«Wir wurden von Kamika­ze-Drohnen und S‑300-Raketen angegrif­fen, und schließ­lich begann am Morgen ein massi­ver Raketen­an­griff», schil­der­te Ukren­er­ho-Chef Kudryz­kyj den Verlauf des Freitags. «Das Ausmaß der Schäden ist beträcht­lich: Den Russen ist es gelun­gen, mehre­re Wärme- und Wasser­kraft­wer­ke zu beschädigen.»

Dadurch seien die Pläne zur Norma­li­sie­rung der Strom­ver­sor­gung zurück­ge­wor­fen worden, sagte er. «Aber es ist erneut keine Katastro­phe passiert.» Auch die 14. russi­sche Angriffs­wel­le seit vergan­ge­nem Oktober habe nicht ihr Ziel erreicht, das ukrai­ni­sche Energie­sys­tem zu zerstören.

In der Großstadt Charkiw werde daran gearbei­tet, die Strom­ver­sor­gung über das Wochen­en­de wieder herzu­stel­len. «Die kriti­sche Infra­struk­tur von Charkiw wurde mit Strom versorgt», beton­te der Ukren­er­ho-Chef. Auch in der Region Chmel­nyz­kyj und in Odessa werde an einer Stabi­li­sie­rung der Lage gearbei­tet. In der Haupt­stadt Kiew gibt es derzeit immer sechs Stunden Strom, dann drei Stunden lang nicht.

Präsi­dent zieht positi­ves Fazit zu Europareise

«London, Paris, Brüssel — überall habe ich in diesen Tagen darüber gespro­chen, wie wir unsere Solda­ten stärken können», sagte Selen­skyj am Freitag­abend in einer Video­bot­schaft. «Es gibt sehr wichti­ge Verein­ba­run­gen, und wir haben gute Signa­le erhal­ten.» Dies gelte für Raketen mit höherer Reich­wei­te und Panzer. An der erhoff­ten Liefe­rung von Kampf­flug­zeu­gen als nächs­ter Stufe der Zusam­men­ar­beit «müssen wir aber noch arbeiten».

In London habe er gespürt, dass die Briten der Ukrai­ne wirklich den Sieg über die russi­sche Invasi­on wünschen. Das Treffen mit Frank­reichs Präsi­dent Emmanu­el Macron und Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) in Paris sei wichtig gewesen, um Argumen­te auszu­tau­schen. «Es wird mehr Unter­stüt­zung geben», sagte Selenskyj.

Seine folgen­den Besuche beim EU-Gipfel und beim Europäi­schen Parla­ment nannte er den «Beginn einer neuen Etappe», in der die Ukrai­ne nicht mehr Gast der europäi­schen Insti­tu­tio­nen sein werde, sondern vollwer­ti­ges Mitglied. Nach seinem Besuch in Washing­ton im Dezem­ber war es für Selen­skyj die zweite Auslands­rei­se seit der russi­schen Invasi­on vor knapp einem Jahr.

Botschaf­ter: Ukrai­ne wird bis zum Sieg durchhalten

Beim Zeitplan für einen EU-Beitritt wolle die Ukrai­ne keine Sonder­ra­bat­te, sie habe aber eine Sonder­rol­le, sagte der ukrai­ni­sche Botschaf­ter in Berlin, Oleksii Makeiev. Daher verdie­ne sie — bei Einhal­tung aller Krite­ri­en — auch beson­de­re Geschwin­dig­keit, sagte er im Deutsch­land­funk. Die Korrup­ti­on in der Ukrai­ne nannte der Botschaf­ter eine Pest, die gerade überwun­den werde. Das sei nicht nur wichtig mit Blick auf eine Aufnah­me in die EU, sondern auch eine entschei­den­de Sicher­heits­fra­ge im Abwehr­kampf gegen Russland.

Sein Land werde bis zu einem Sieg gegen Russland durch­hal­ten, sagte Makeiev. Die Ukrai­ne habe keine andere Wahl, auch wenn sie gegen einen Riesen kämpfe. Schließ­lich sei nicht nur die Freiheit des Landes bedroht, sondern seine Existenz als eigen­stän­di­ger Staat.

Biden in Polen, Putin in Moskau

US-Präsi­dent Biden wird vor dem ersten Jahres­tag des Kriegs­be­ginns an die Nato-Ostflan­ke nach Polen reisen. Er werde bei seinem Besuch vom 20. bis 22. Febru­ar unter anderem den polni­schen Präsi­den­ten Andrzej Duda treffen, kündig­te das Weiße Haus an. Geplant sei auch eine Rede Bidens mit Blick auf den 24. Febru­ar. Polen ist ein wichti­ger Unter­stüt­zer der Ukrai­ne. Über seine östli­che Grenze kommt ein Großteil der auslän­di­schen Militär­hil­fe in das angegrif­fe­ne Land.

Bidens Besuch wird sich mit einem wichti­gen Auftritt des russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin überschnei­den. Der Kreml­chef will am 21. Febru­ar in Moskau seine alljähr­li­che Rede an die Nation halten — ebenfalls abzie­lend auf den Jahres­tag. 2022 war die Rede ausgefallen.