KIEW/MOSKAU (dpa) — Für die Ukrai­ne ist Russlands Gas-Liefer­stopp ein Beweis für eine krimi­nel­le Wirtschafts­po­li­tik. Unter­des­sen protes­tiert Moskau gegen eine US-Waffen­lie­fe­rung an Kiew. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Wegen der gestopp­ten Gasver­sor­gung von Polen und Bulga­ri­en hat der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj Russland «Erpres­sung» vorgeworfen.

Das Einstel­len der Liefe­run­gen zeige, «dass niemand in Europa auf eine norma­le wirtschaft­li­che Zusam­men­ar­beit mit Russland hoffen» könne, sagte er. Unter­des­sen beklag­te die Ukrai­ne erneut Tote und Verletz­te nach russi­schen Angrif­fen. Die Lage im prorus­si­schen Separa­tis­ten­ge­biet Trans­nis­tri­en beobach­tet die ukrai­ni­sche Regie­rung nach Berich­ten über Explo­sio­nen aufmerksam.

Kiew hat «Brücken­kopf» Trans­nis­tri­en im Blick

«Wir haben Trans­nis­tri­en immer als Brücken­kopf betrach­tet, von dem gewis­se Risiken für uns ausge­hen können», sagte Präsi­den­ten­be­ra­ter Mycha­j­lo Podol­jak nach Angaben der Agentur Unian am Mittwoch­abend. Die ukrai­ni­sche Führung sei sich der von Trans­nis­tri­en ausge­hen­den Gefah­ren bewusst, weshalb in den ukrai­ni­schen Regio­nen Odessa und Winnyz­ja «unter dem Gesichts­punkt der Vertei­di­gung alles gut durch­dacht» sei. Die jüngs­ten Explo­sio­nen bezeich­ne­te er als Versuch der Provo­ka­ti­on. «Es ist alles so, wie es die Russi­sche Födera­ti­on immer macht.» Rückhalt der Separa­tis­ten in der von Moldau abtrün­ni­gen Region ist ein Kontin­gent dort statio­nier­ter russi­scher Soldaten.

Kiew erwar­tet «äußerst schwie­ri­ge Wochen»

Der ukrai­ni­sche Vertei­di­gungs­mi­nis­ter Olexij Resni­kow hat die Armee seines Landes im russi­schen Angriffs­krieg auf «äußerst schwie­ri­ge Wochen» einge­schwo­ren. Die Umset­zun­gen von Ausbil­dung und Logis­tik bräuch­ten Zeit, schrieb Resni­kow bei Facebook. «Und Russland hat seine Streit­kräf­te bereits für eine großan­ge­leg­te Offen­si­ve in der Ostukrai­ne zusam­men­ge­zo­gen.» Die Unter­stüt­zung für die Ukrai­ne nehme zwar zu, aber Kiew müsse in den kommen­den Tagen Wider­stands­fä­hig­keit und beson­de­re Einig­keit unter Beweis stellen.

Russland werde zwar nicht gewin­nen, aber versu­chen, der Ukrai­ne «so viel Schaden wie möglich» zuzufü­gen. «Leider werden wir noch Angehö­ri­ge unserer Streit­kräf­te verlie­ren, bevor wir den Sieg errin­gen. Es wird noch Zerstö­rung und schmerz­haf­te Verlus­te geben.»

«Russland betrach­tet jegli­chen Handel als Waffe»

Präsi­dent Selen­skyj kriti­sier­te unter­des­sen den russi­schen Liefer­stopp für Gas an Polen und Bulga­ri­en scharf. «In dieser Woche hat die russi­sche Führung eine neue Serie von Energie­er­pres­sun­gen gegen­über den Europä­ern begon­nen», sagte er in einer Video­bot­schaft. «Russland betrach­tet nicht nur Gas, sondern auch jeden anderen Handel als Waffe.» Dafür warte Moskau nur auf einen günsti­gen Moment.

«Entwe­der um die Europä­er damit politisch zu erpres­sen. Oder um die russi­sche Kriegs­ma­schi­ne­rie zu stärken, die ein geein­tes Europa als Ziel ansieht», meinte Selen­skyj. Je früher Europa erken­ne, dass es im Handel nicht von Russland abhän­gig sein könne, desto eher werde die Stabi­li­tät der europäi­schen Märkte gewähr­leis­tet sein.

Ukrai­ni­sche EU-Expor­te ohne Zölle?

Selen­skyj lobte einen Vorschlag der EU-Kommis­si­on, Expor­te aus der Ukrai­ne in die EU befris­tet von Einfuhr­zöl­len zu befrei­en. «Russland versucht, eine weltwei­te Preis­kri­se zu provo­zie­ren. Damit das Chaos auf allen Basis­märk­ten und insbe­son­de­re auf dem Lebens­mit­tel­markt begin­nen kann», sagte er. Die ukrai­ni­schen Expor­te könnten aber zur Stabi­li­sie­rung der Märkte beitra­gen. «Es kommt also nicht nur uns, sondern allen Europä­ern zugute. Den Einwoh­nern aller Länder, die von Russlands zerstö­re­ri­schen Ambitio­nen betrof­fen sein könnten.»

Der für Handel zustän­di­ge EU-Kommis­sar Valdis Dombrovskis sagte, die EU habe noch nie zuvor derar­ti­ge Maßnah­men zur Handels­li­be­ra­li­sie­rung ergrif­fen. Auch Anti-Dumping-Maßnah­men gegen ukrai­ni­sche Stahl­ex­por­te sollen für ein Jahr ausge­setzt werden. Das EU-Parla­ment und die EU-Länder müssen zustim­men, Änderun­gen am Vorschlag sind möglich.

Russland kriti­siert Weiter­ga­be von US-Hubschraubern

Russland protes­tier­te unter­des­sen gegen die Weiter­ga­be von Hubschrau­bern aus russi­scher Produk­ti­on an die Ukrai­ne durch die USA. Der Vertrag von 2011 lege fest, dass die Hubschrau­ber für Afgha­ni­stan vorge­se­hen seien und nur mit russi­scher Zustim­mung an andere Länder weiter­ge­ge­ben werden dürften, teilte die für militär­tech­ni­sche Zusam­men­ar­beit zustän­di­ge Behör­de FSWTS mit. Eine Belie­fe­rung der Ukrai­ne sei rechts­wid­rig und eine grobe Vertragsverletzung.

Vor Beginn des russi­schen Angriffs­kriegs Ende Febru­ar hatten die USA der Ukrai­ne fünf der ursprüng­lich für Afgha­ni­stan bestimm­ten Hubschrau­ber vom Typ Mi-17 überlas­sen. Mitte April kündig­te Washing­ton an, Kiew elf weite­re Hubschrau­ber zu schicken. Die USA hatten die Maschi­nen russi­scher Bauart zunächst für die afgha­ni­schen Streit­kräf­te angeschafft, es kam jedoch wegen der Macht­über­nah­me durch die Taliban nicht zu einer Übergabe.

Verstärk­te russi­sche Angrif­fe im Osten

Die russi­schen Streit­kräf­te haben nach Angaben des General­stabs in Kiew das Tempo ihrer Angrif­fe im Osten der Ukrai­ne deutlich erhöht. Die russi­schen Besat­zer würden praktisch von allen Seiten inten­siv angrei­fen und Ziele unter Beschuss nehmen, teilte der Stab am Donners­tag in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt mit. Moskau ziehe zusätz­li­che Kräfte in die Nähe von Isjum im Gebiet Charkiw zusam­men — mit dem Ziel, die Vertei­di­ger der Ukrai­ne im Osten einzu­krei­sen, hieß es weiter.

Der Gegner strebe vor allem weiter nach voller Kontrol­le über die Gebie­te Luhansk und Donezk, um einen Landkor­ri­dor zur Schwarz­meer-Halbin­sel Krim zu etablie­ren. Nach Darstel­lung des General­stabs in Kiew nutzen die russi­schen Streit­kräf­te auch weiter den Flugha­fen von Melito­pol im Gebiet Saporischschja als Basis für ihre Kampf­flug­zeu­ge und –hubschrau­ber.

Der Gouver­neur von Luhansk, Serhij Hajdaj, berich­te­te im Nachrich­ten­ka­nal Telegram von schwe­ren Zerstö­run­gen in den umkämpf­ten Städten Lyssytschansk und Popas­na. Vier Menschen seien bei russi­schen Angrif­fen im Gebiet Luhansk inner­halb eines Tages getötet und vier weite­re verletzt worden. Die russi­sche Armee habe mit Luftschlä­gen und Artil­le­rie Dutzen­de Male zivile Ziele beschos­sen, sagte Hajdaj.

Tote und Verletz­te durch weite­ren Beschuss

Ukrai­ni­schen Angaben zufol­ge wurden durch neuen Beschuss in der Region Charkiw mindes­tens drei Menschen getötet und sechs verletzt, darun­ter ein 14 Jahre altes Kind. Die örtli­che Verwal­tung machte Russland für die zivilen Opfer verant­wort­lich. Aus der Stadt Cherson, deren Einnah­me Russland gemel­det hatte, wurden mehre­re Explo­sio­nen berich­tet. Die Detona­tio­nen hätten sich unweit des Fernseh­zen­trums ereig­net, teilten ukrai­ni­sche Medien mit. Danach sei ein Feuer ausge­bro­chen. In der Nähe von Odessa schoss die Luftab­wehr eine russi­sche Spiona­ge­droh­ne ab, wie die ukrai­ni­sche Armee mitteil­te. Die Angaben konnten zunächst nicht unabhän­gig geprüft werden.

Klitsch­ko lässt ukrai­nisch-russi­sches Monument entfernen

In der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kiew ließ Bürger­meis­ter Vitali Klitsch­ko wegen des russi­schen Angriffs­krie­ges ein Denkmal für die Freund­schaft beider Völker entfer­nen. Das riesi­ge Monument zweier Arbei­ter – eines Ukrai­ners und eines Russen – wurde abgeris­sen. Zuerst sei der Kopf des russi­schen Arbei­ters gefal­len, sagte Klitsch­ko. Das Bild war am Mittwoch in vielen Medien zu sehen. Insge­samt sei die Demon­ta­ge nicht einfach gewesen, aber letzt­lich geglückt. Das habe Symbol­kraft. «Wir müssen den Feind und den russi­schen Besat­zer aus unserem Land vertrei­ben», sagte Klitschko.

Das wird heute wichtig

Die Unter­stüt­zung der Ukrai­ne spielt am Donners­tag erneut eine zentra­le Rolle im Bundes­tag. Die Ampel-Koali­ti­on und die Union als größte Opposi­ti­ons­frak­ti­on wollen einen gemein­sa­men Antrag zur Liefe­rung schwe­rer Waffen beschlie­ßen. UN-General­se­kre­tär António Guter­res setzt unter­des­sen seine Vermitt­lungs­rei­se fort und will Präsi­dent Selen­skyj in Kiew treffen. Eines der Haupt­the­men dürfte wie beim vorhe­ri­gen Besuch in Moskau die Lage in der Stadt Mariu­pol sein, wo Truppen und Zivilis­ten von der russi­schen Armee einge­kes­selt sind.