KASSEL (dpa) — Projek­te statt herkömm­li­cher Kunst. Kollek­ti­ve, wo sonst große Namen prangen. Die documen­ta fifteen erfüllt die Erwar­tun­gen in ihre Unerwartbarkeit.

Zeit ist ein wichti­ger Faktor. Wer diese documen­ta besucht, bekommt nicht nur im Vorüber­schlen­dern hier ein Gemäl­de, dort eine Skulp­tur präsentiert.

Künst­le­ri­sche Prozes­se von Kollek­ti­ven stehen im Zentrum der documen­ta fifteen (18. Juni — 25. Septem­ber) in Kassel. Es geht um kollek­ti­ves Glück der Menschen, Rechte von Geflüch­te­ten, Möglich­keit der Parti­zi­pa­ti­on, in Gemein­schaf­ten schlum­mern­de Fähig­kei­ten, prakti­zier­te Gastfreund­schaft, Formen des Wider­stand mit Mitteln der Kunst.

Es kuratiert nicht eine Einzel­per­son, sondern ein Kollek­tiv. Die Gruppe Ruangrupa stammt aus Indone­si­en. Das indone­si­sche Wort für eine Reisscheu­ne ist «lumbung», in dem Insel­staat eine gemein­schaft­lich genutz­te Scheu­ne für überschüs­si­ge Ernte. Bei der documen­ta geht es auch darum, «gemein­sam lumbung zu prakti­zie­ren». Erste Blicke auf Kunst und Projekte.

Die Politik hält Einzug

Das Fride­ri­cia­num — zentra­ler Punkt unter den 32 Einzel­stand­or­ten — beher­bergt Archi­ve, die in Videos, Fotos, Plaka­ten, Objek­ten die künst­le­ri­sche und politi­sche Arbeit in verschie­de­nen Ländern dokumen­tie­ren: den Kampf um Frauen­rech­te in Algeri­en, gegen die Diskri­mi­nie­rung von Roma in Ungarn oder die Apart­heid in Südafri­ka, die Bewegung um Black Lives Matter.

Im Erdge­schoss ist die «gudskul» einge­zo­gen, ein gemein­schaft­li­cher Wohn- und Arbeits­raum für die Kollek­ti­ve, die diese documen­ta kollek­tiv gestal­tet haben. Besuche­rin­nen und Besucher können sie mit etwas Glück beim Arbei­ten, Kochen, Abhän­gen oder Karao­ke-Singen beobachten.

Bilder gibt es — vielfa­chen Befürch­tun­gen zum Trotz — auch zu sehen: die riesi­ge viertei­li­ge «Geburt» des Ungarn Tamás Péli, zahlrei­che Arbei­ten des Austra­li­ers Richard Bell, bunte Textil­col­la­gen von Migra-Tas aus Polen. Der Brite Daniel Baker hat aus zerschnit­te­nen silber­nen Rettungs­de­cken eine «Überle­bens­de­cke» gehäkelt.

«Quanten­zeit­kap­sel» in der Straßenunterführung

In der documen­ta-Halle beginnt der Rundgang in einem Slum in Nairo­bi, wo das Wajukuu Art Project einen Vorbau aus rosti­gem Wellblech errich­tet hat. Zwei Skulp­tu­ren schwe­ben bäuch­lings in einem Kokon aus Zweigen über einem Sandhau­fen, unter dem sich ein Spiegel verbirgt. Wie Federn schmie­gen sich krumm geschlif­fe­ne Küchen­mes­ser an eine Haut aus ölver­schmier­ten Ketten.

Vor der Halle sägen Mitglie­der der Gruppe Taring Padi aus Indone­si­en die Stäbe für ihre knall­bun­ten Papppup­pen zurecht — hunder­te stecken schon im Rasen. Im Natur­kun­de­mu­se­um Ottone­um erobert sich die Natur in Südko­rea die Archi­tek­tur zurück.

Skater­park und Bodeninstallation

Das Britto Arts Trust Project aus Bangla­desch hat eine Markt­hal­le nachge­baut, in der alle Waren ungenieß­bar sind: Die Suppen­do­sen sind aus Stoff, Milch­tü­ten aus Metall, Obst aus Keramik. Das Kollek­tiv Baan Noorg aus Thailand hat einen Skater­park aufge­baut. Instar aus Kuba dokumen­tie­ren den Umgang der Regie­rung mit Kriti­kern in einer gezeich­ne­ten Wandzei­tung und mit Strumpf­mas­ken auf Pfählen.

Im Ballsaal eines leerste­hen­den Hotels haben Künst­ler aus Johan­nes­burg eine 100 Quadrat­me­ter große Boden­in­stal­la­ti­on geschaf­fen, eine Art 3D-Landkar­te eines dekolo­nia­li­sier­ten Globus. Im «Ruruhaus» präsen­tie­ren sich lokale Künst­ler und Initia­ti­ven, in einer Straßen­un­ter­füh­rung können Besucher Geschich­ten und Erinne­run­gen in einer «Quanten­zeit­kap­sel» für die Ewigkeit bewahren.

Einen Schwer­punkt dieser Ausga­be hat das documen­ta-Team auf einen alten, von Indus­trie und Arbei­ter­vier­teln gepräg­ten Stadt­teil gelegt. In Betten­hau­sen wurden das alte Hallen­bad Ost und ein frühe­res Produk­ti­ons­ge­län­de erschlos­sen. Eine Brache dient als kultu­rel­ler Nährbo­den und in einer alten Kirche stoßen Religi­on und Voodoo aufeinander.

Auf dem indus­tri­el­len Hübner-Areal hat die Fonda­ti­on Festi­val sur le Niger aus Mali mit «Le Maaya Bulon» einen Bereich zum Erzäh­len, Austau­schen, Musizie­ren, Zuhören geschaf­fen. Gastfreund­schaft gilt als wichti­ger Wert in der Kultur des Landes. Dieser Gedan­ke wird konkret auch beim chine­si­schen Kollek­tiv Boloho, das die alte Kanti­ne des Werks mit seinen Arbei­ten aus Paravents, Zeich­nun­gen, Foto und Video­in­stal­la­tio­nen umgestal­tet hat — und bekocht.

Gemäl­de im alten Hallenbad

Im Bauhaus-Klinker des still­ge­leg­ten Hallen­bads und auf der Wiese davor hat Taring Padi seine als Archiv bezeich­ne­te Arbeit als Retro­spek­ti­ve aus 22 Jahren instal­liert. Im frühe­ren Schwimm­be­cken thema­ti­siert die Gruppe auf großfor­ma­ti­gen Gemäl­den, bedruck­ten Fahnen, mit Figuren und Objek­ten das vom späte­ren dikta­to­risch regie­ren­den Präsi­den­ten Haji Mohamed Suhar­to verant­wor­te­te Massa­ker, dem nach Schät­zun­gen bis zu drei Millio­nen Menschen zum Opfer fielen. Vor dem Gebäu­de steht eine riesi­ge Versamm­lung von Wayang Kardus, lebens­gro­ßen Figuren aus bemal­ter Pappe, eine Demons­tra­ti­on gegen das Regime mit Blicken auf Ereig­nis­se und Auswirkungen.

Beson­de­res Augen­merk dürfte der documen­ta-Stand­ort WH22, ein altes Kulturare­al, auf sich ziehen. Dort stellt auch die paläs­ti­nen­si­sche Gruppe The Questi­on of Funding aus, an der sich eine Antise­mi­tis­mus­de­bat­te um die documen­ta entzün­de­te. Moham­med Al Hawajri etwa kombi­niert in seiner Serie «Guerni­ca Gaza» Bilder von Angrif­fen der israe­li­schen Armee auf das Paläs­ti­nen­ser­ge­biet mit klassi­schen Motiven von Millet, Delacroix, Chagall oder van Gogh.

Der Serien­ti­tel stellt eine Verbin­dung her zum Gemäl­de «Guerni­ca» von Pablo Picas­so — es entstand 1937 als Reakti­on auf die Zerstö­rung der spani­schen Stadt Guerni­ca durch einen Luftan­griff der «Legion Condor» Nazi-Deutschlands.

Zum ersten Mal betei­li­gen sich laut Kurator Markus Ambach mit dem Projekt «Eine Landschaft» auch örtli­che Künst­ler in nennens­wer­tem Umfang an einer documen­ta. Rene Wagner etwa widmet sich in seinem Atelier in einem frühe­ren Boots­ver­leih an der Fulda hochglanz­la­ckier­ten Sieger­tro­phä­en aus der Welt des Sports und der biede­ren Bürger­ge­sell­schaft – und ihren Blessu­ren. «Hier wird Alltags­kul­tur als Kultur ernst­ge­nom­men», sagt Ambach.

In unmit­tel­ba­rer Nachbar­schaft hat das Kollek­tiv Off-Bienna­le Budapest einen imagi­nä­ren Spiel­platz aufge­baut. Die gemein­sam mit einer Kasse­ler Schule entstan­de­ne «Alles­brü­cke» lädt mit Kletter­wän­den, Rutschen und Sandkäs­ten zum Spielen wie zur Inter­ak­ti­on ein. Eva Kotát­ko­vá lotet mit ihrer texti­len «Daydre­a­ming Worksta­tion» die fantas­ti­schen Zusam­men­hän­ge zwischen Träumen und Tagträu­men aus.

Eine Sommer­büh­ne aus Lehm

Dann der Kontrast: Auf der großen Karls­wie­se gegen­über macht das Nest Collec­ti­ve aus Nairo­bi mit seiner aus Textil­müll und Elektro­schrott bestehen­den Instal­la­ti­on «Return To Sender» auf die Zerstö­rung von Umwelt und Märkten afrika­ni­scher Länder aufmerk­sam. Cao Minghao & Chen Jianjun aus Cheng­du in China haben vor der herrschaft­li­chen Barock­fas­sa­de der Orange­rie ein schwar­zes, innen unerträg­lich heißes Zelt errich­tet, mit dem sie auf die sozia­len Ungleich­hei­ten der Menschen hinweisen.

In der Nordstadt ist ein Fulda-Zufluss Spiel­ort der documen­ta fifteen. Dort reicht eine Sommer­büh­ne aus Lehm und anderen nachhal­ti­gen Materia­li­en über die Ahne mit einer Handvoll Sitzplät­zen aus Holzstäm­men. Der indische Maurer, Archi­tekt und Lehrer Sourabh Phadke hat sie für die paläs­ti­nen­si­sche Künst­le­rin Jumana Emil Abboud entwor­fen. Die Bühne soll während der kommen­den 100 Tage regel­mä­ßig für Perfor­man­ces und Open-Air-Kino aktiviert werden.

So bunt wie die Weltkunst­aus­stel­lung selbst präsen­tier­te sich auch die General­di­rek­to­rin Sabine Schor­mann bei der Eröff­nungs­pres­se­kon­fe­renz. Sie trug eine Tunika in dem farben­fro­hen documen­ta-fifteen-Design. Was von der diesjäh­ri­gen Schau bleiben werde? «Wer weiß», sagte sie. Auch das überlas­se das Kurato­ren­kol­lek­tiv Ruangrupa dem Prozess.

Seit Mittwoch sind Vorbe­sich­ti­gungs­ta­ge der documen­ta fifteen. Zur offizi­el­len Eröff­nung an diesem Samstag (18.6.) werden unter anderem Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er, Kultur­staats­mi­nis­te­rin Claudia Roth, Hessens Minis­ter­prä­si­dent Boris Rhein sowie der Botschaf­ter der Republik Indone­si­en, Arif Havas Oegro­se­no, erwartet.

Die documen­ta gilt neben der Bienna­le in Venedig als wichtigs­te Präsen­ta­ti­on von Gegen­warts­kunst. Sie findet alle fünf Jahre statt und dauert tradi­tio­nell 100 Tage, sie endet am 25. Septem­ber. Bereits vor der Eröff­nung hatten die Veran­stal­ter 54 000 Tickets verkauft.

«documen­ta fifteen Handbuch», Begleit­buch zur Ausstel­lung, von Ruangrupa (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag Berlin 2022, 320 S., ISBN 978–3‑7757–5282‑4, 25 Euro

«Gehen, Finden, Teilen. Ein illus­trier­tes Begleit­buch zur documen­ta fifteen», von Ruangrupa (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag Berlin 2022, 96 S., ISBN 978–3‑7757–5283‑1, 15 Euro

«documen­ta fifteen Majalah lumbung. Ein Magazin über Ernten und Teilen», von Ruangrupa (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag Berlin 2022, 320 S., ISBN 978–3‑7757–5285‑5, 30 Euro

«documen­ta fifteen lumbung erzäh­len», von Harriet C. Brown (Hrsg.), Hatje Cantz Verlag Berlin 2022, ISBN 978–3‑7757–5286‑2, 18 Euro

 

Von Nicole Schip­pers, Sandra Trauner, Gerd Roth, Chris­ti­an Rupp, dpa