PERDASDEFOGU (dpa) — Altwer­den auf Sardi­ni­en: Auf der italie­ni­schen Insel liegt in aller Abgeschie­den­heit das «Dorf der Hundert­jäh­ri­gen», das auch im Guinness­buch der Rekor­de steht. Was ist das Geheim­nis der Menschen dort?

Mit seiner vorro­ma­ni­schen Kirche, dem zentral gelege­nen Platz und den kleinen Geschäf­ten könnte Perdas­de­fo­gu ein Ort wie jeder andere in Itali­en sein. Überschau­bar, schnu­cke­lig, aber wenig aufse­hen­er­re­gend. Die Ortschaft im Südos­ten der belieb­ten Ferien­in­sel Sardi­ni­en ist jedoch eine Rekordhalterin.

Perdas­de­fo­gu ist als Dorf der Hundert­jäh­ri­gen bekannt und hat es damit ins Guinness­buch der Rekor­de geschafft. Der beschwer­li­che Weg dorthin lässt das nicht vermu­ten. Eine enge, kurvi­ge Straße schlän­gelt sich hoch zu dem Ort in den schrof­fen Bergen Sardi­ni­ens. Schon am Ortsein­gang macht eine steiner­ne Tafel auf den Rekord aufmerk­sam. Im Dorf erinnert die Piazza Longe­vi­tà (Platz des langen Lebens) daran. Die Rentner, die sämtli­che italie­ni­sche Regie­run­gen und Krisen miter­leb­ten, sind das Aushängeschild.

Der Stolz der Gemein­de wird auch an der Haupt­stra­ße sicht­bar, die durch den Ort führt. Die pastell­far­be­nen Fassa­den der Häuser sind verziert mit Schwarz-Weiß-Fotos der Methu­sa­lems mit deren Namen und Geburtsjahr.

Da ist zum Beispiel Vitto­rio Lai. Verschmitzt lächelt er in die Kamera, auf dem Bild trägt er eine feinka­rier­te Schie­ber­müt­ze und eine Winter­ja­cke, die so gar nicht zur Wärme des enden­den Sommers passt. Darun­ter: weißes Hemd mit Fliege. Die Mütze setzte er auch auf, als er am vergan­ge­nen Sonntag ins Wahllo­kal ging, um über das neue italie­ni­sche Parla­ment abzustim­men. Auf seiner Wähler­kar­te, die auf einem in der Facebook-Gruppe des Ortes veröf­fent­lich­ten Foto zu sehen ist, steht sein Geburts­da­tum: 12. Febru­ar 1922.

Lai ist einer der neun 100- und über 100-Jähri­gen, die derzeit in Perdas­de­fo­gu leben. Das Guinness-Buch beschei­nigt dem Ort, derje­ni­ge mit der höchs­ten Quote an Einwoh­nern zu sein, die ein solches Alter erreicht haben. Lai ist so lange verhei­ra­tet, wie das Leben vieler nicht einmal wird: 78 Jahre. Das spreche wohl auch für seinen Charak­ter und den seiner Frau, kommen­tiert die Repor­te­rin des Fernseh­sen­ders Rai. «Na ja, manch­mal sagt sie, ich sei ein bisschen frech», antwor­tet Lai in einem jüngst ausge­strahl­ten Beitrag. «Ich sage, einmal bin ich frech, ein ander­mal du, also gleichen wir uns aus.»

Selbst­ge­mach­te Minestrone

Annun­zia­ta Stori ist die jüngs­te 100-Jähri­ge in dem Ort mit seinen 1780 Einwoh­nern. Sie feier­te den Eintritt in ihr zweites Lebens­jahr­hun­dert am 16. August. Da kam dann natür­lich auch Bürger­meis­ter Bruno Chillot­ti, um persön­lich zu gratulieren.

«Gesund wie ein Fisch» sei sie. Lebhaft und fröhlich, nehme keine Medika­men­te und koche ihre Minestro­ne immer noch mit selbst gemach­ter Fregu­la, der typisch sardi­schen Nudel­sor­te, schreibt der Regis­seur Pietro Mereu. Der hatte der vor ein paar Jahren die Dokumen­ta­ti­on «Der Club der Hundert­jäh­ri­gen» gedreht. Auf Facebook veröf­fent­lich­te Mereu ein Foto von sich und Stori, auf dem sie — ganz in schwarz geklei­det und mit Kopftuch — an einem Tisch steht. In einer der großen Schalen vor ihr Tomaten, eine Auber­gi­ne und Paprika.

Ist die Ernäh­rung also das Geheim­nis der Hundert­jäh­ri­gen? Mereu sagt, die Menschen in der Provinz Oglia­stra hätten ein sehr hartes Leben gelebt, aber mit viel weniger Stress als heutzu­ta­ge. Statt dem Rhyth­mus von Handy und E‑Mails seien sie dem der Natur gefolgt.

Der Ort sei von der Landwirt­schaft geprägt gewesen, sagt auch Antonio Brundu. Er ist der ältes­te Bewoh­ner des Ortes. «Die Leute haben immer an der frischen Luft gearbei­tet», erzählt er der Rai. Seine Haut ist noch straff, leicht gebräunt — nur an den fehlen­den Vorder­zäh­ne sieht man ihm sein Alter an. Er ist 104 Jahre und fünf Monate alt. Die exakte Lebens­dau­er, sie gehört im hohen Alter wieder betont.

Salva­to­re Mura, Histo­ri­ker und Gemein­de­rat in Perdas­de­fo­gu, nennt mehre­re Gründe, mit denen sich das lange Leben vieler Bewoh­ner erklä­ren lasse. Die Gene seien ein Faktor. Hinzu komme, dass sich die Dorfäl­tes­ten seit jeher von Produk­ten aus «Null Metern Entfer­nung», also aus ihrem eigenen Garten, ernähr­ten. Doch auch das sozia­le Netz spiele mit rein. «Bis zu ihrem letzten Tag leben sie in der Familie», sagt Mura. Auch das halte physisch und körper­lich fit.

Ein einfa­ches, Ruhiges Leben

Statt die Hochbe­tag­ten an einem Tag wie dem Inter­na­tio­na­len Tag der älteren Menschen am 1. Oktober zu ehren, wird jeder 100. Geburts­tag in Perdas­de­fo­gu gefei­ert. Mura sagt, dieses Jahr stehe kein weite­rer mehr an, dafür könnte es nächs­tes Jahr neue Hundert­jäh­ri­ge geben.

Auf der Straße aber begeg­ne man den Hundert­jäh­ri­gen nicht mehr so oft, sagt Massi­mo. Er ist Baris­ta im Café an der zentra­len Piazza Europa und bedient gerade seine Gäste. Im Sommer sei es vielen zu heiß. Und nicht allen gehe es präch­tig. Eine Frau könne zum Beispiel kaum mehr sprechen und sei in einer Pflege­ein­rich­tung unter­ge­bracht. Massi­mos Frau sei die Nichte einer, die weit mehr als 100 Jahre alt wurde, sagt der Kellner.

Warum die Menschen ausge­rech­net in Pedas­de­fo­gu so alt werden? «Das liegt einfach am sardi­schen Lebens­stil», sagt er. Im Ort gebe es kein Drogen­pro­blem, die Leute ernähr­ten sich gesund, ihr Leben sei einfach und ruhig.

Auch die Wissen­schaft beschäf­tigt sich mit der Langle­big­keit der Sarden. Ein Projekt will 13 000 DNA-Proben von Einwoh­nern der Provinz Oglia­stra sequen­zie­ren, um Erklä­run­gen für das Phäno­men zu finden, berich­te­te die Nachrich­ten­agen­tur Ansa kürzlich. Auch die Univer­si­tät Sassa­ri ist an der Unter­su­chung betei­ligt. Rektor Gavino Mariot­ti sagt: «Wir hoffen, zeigen zu können, dass die Menschen auf Sardi­ni­en gut leben, auch als Werbe­fak­tor für unser Land.»

Von Johan­nes Neude­cker und Lena Klimkeit, dpa