BERLIN (dpa) — Der Winter kommt schnell — und mit ihm vielleicht weiter rasant steigen­de Preise, Ratio­nie­rung von Gas und andere Proble­me. Machen dann Deutsch­lands Wut-Bürger mobil? Einen ersten Demo-Termin gibt es.

Sie ruder­te zwar schnell zurück, doch der ungeheu­er­lich klingen­de Begriff war in der Welt. Wenn Deutsch­land kein Gas mehr aus Russland bekom­me, werde es der Ukrai­ne gar keine Unter­stüt­zung mehr leisten können, «weil wir dann mit Volks­auf­stän­den beschäf­tigt sind», warnte Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) im Juli auf einer Veran­stal­tung des Redak­ti­ons­netz­werks Deutsch­land. Und relati­vier­te kurz darauf: «Ich habe es bewusst sehr zugespitzt formuliert.»

«Volks­auf­stän­de» — der Begriff trieb manchen Politi­kern anderer Lager ein Stirn­run­zeln ins Gesicht. Doch der große Aufschrei blieb aus. Denn über die Partei­gren­zen hinweg wächst eine Sorge: Was wird im Herbst und Winter in Deutsch­land gesche­hen, wenn sich die Proble­me immer höher auftür­men sollten? Angenom­men: Die Energie­prei­se explo­die­ren weiter, auch Lebens­mit­tel werden immer teurer, Gas wird ratio­niert, Unter­neh­men fahren notge­drun­gen die Produk­ti­on runter, Menschen geraten so in Kurzar­beit oder gar Arbeits­lo­sig­keit, die Corona-Pande­mie flammt wieder auf. Ein solches Krisen­sze­na­rio ist längst nicht mehr unvor­stell­bar — und durch­aus erweiterbar.

AfD und Linke kündi­gen bereits einen «heißen Herbst» an. Extre­mis­ten hoffen gar auf einen «Wut-Winter». Die Linke ruft für den kommen­den Montag zu einer ersten Demo in Leipzig auf. Ihr Vorsit­zen­der Martin Schir­de­wan sagte im ARD-Sommer­in­ter­view eine «sozia­le Katastro­phe» voraus und erklär­te: «Wir laufen als Gesell­schaft in einen perfek­ten Sturm.» Was die Frage aufwirft: Wie sturm­fest, durch­hal­te­wil­lig und leidens­fä­hig ist die deutsche Gesellschaft?

Stimmungs­la­ge

Umfra­gen zeigen: Noch steht die Solida­ri­tät der Deutschen mit Kiew. Laut ZDF-«Politbarometer» vom August bejahen 71 Prozent die Frage, ob Deutsch­land die Ukrai­ne trotz hoher Energie­prei­se hierzu­lan­de weiter unter­stüt­zen sollte. Nur 20 Prozent plädie­ren dafür, diese Hilfen einzu­stel­len, um wieder zu niedri­ge­ren Preisen zu kommen. Aller­dings gibt es ein deutli­ches Ost-West-Gefäl­le. Gefragt nach den Sanktio­nen gegen Russland trotz mögli­cher Nachtei­le für Deutsch­land erklär­ten im Juli im ARD-«Deutschlandtrend» 63 Prozent der Menschen im Westen der Republik ihre Unter­stüt­zung, aber nur 39 Prozent im Osten. Mit «nein, unter­stüt­ze ich nicht» antwor­te­ten im Westen 29 Prozent, im Osten aber eine knappe Mehrheit von 51 Prozent der Befragten.

Wenn die Akzep­tanz insge­samt hoch ist, hatte dann Altbun­des­prä­si­dent Joachim Gauck also Recht, als er — ebenfalls zugespitzt — bereits zum Beginn des Ukrai­ne-Krieges erklär­te: «Wir können auch einmal frieren für die Freiheit. Und wir können auch einmal ein paar Jahre ertra­gen, dass wir weniger an Lebens­glück und Lebens­freu­de haben.»

Doch was passiert, wenn es nicht mehr nur um «Lebens­glück und Lebens­freu­de» geht? Sondern um die Existenz. Schon jetzt wachsen die Sorgen. Im August-«Politbarometer» des ZDF gaben nur noch 55 Prozent der Befrag­ten an, dass ihre eigene finan­zi­el­le Situa­ti­on gut sei. Am Jahres­an­fang waren es noch 65 Prozent gewesen. Auch die Aussich­ten werden pessi­mis­ti­scher bewer­tet: 40 Prozent der Bürger — so viele wie nie zuvor — gehen davon aus, dass ihre eigene wirtschaft­li­che Lage in einem Jahr schlech­ter sein wird als heute.

Zugleich ist die Unzufrie­den­heit über das Gegen­steu­ern der Bundes­re­gie­rung hoch. Nach Ansicht von 58 Prozent aller Befrag­ten unter­nimmt die Ampel zu wenig, um die Bürger angesichts der hohen Preise zu entlas­ten. Beson­ders ausge­prägt ist die Enttäu­schung bei Anhän­gern der AfD (80 Prozent) und der Linken (71 Prozent).

Protes­te

Führen­de Ampel-Politi­ker, voran Kanzler Olaf Scholz (SPD) und sein Wirtschafts­mi­nis­ter Robert Habeck (Grüne), bekom­men die Protes­te längst zu spüren. Scholz zum Beispiel wurde während seiner Sommer­tour in Neurup­pin nieder­ge­brüllt und als «Volks­ver­rä­ter» und «Lügner» beschimpft. Gegen Habeck wollte die rechts­extre­me Split­ter­par­tei Freie Sachsen auf dem Markt­platz in Heiden­au eine Art Schau­pro­zess veran­stal­ten. Er sollte dabei in Form einer Puppe an den Pranger gestellt werden — was Gerich­te jedoch untersagten.

«Überall, wo Herr Habeck und Herr Scholz auftau­chen, sind verschie­de­ne, vor allem rechts­ra­di­ka­le, verschwö­rungs­ideo­lo­gi­sche Netzwer­ke, die wir aus den Corona-Demons­tra­tio­nen kennen, ist die AfD aktiv», sagt der Sozio­lo­gie-Profes­sor Matthi­as Quent von der Hochschu­le Magde­burg-Stend­al. «Ihnen gelingt es dummer­wei­se, ihre Protes­te wie sponta­ne Bürger­pro­tes­te ausse­hen zu lassen. Das ist im Grunde die alte Pegida-Strategie.»

Zwar sei es ein demokra­ti­sches Recht zu protes­tie­ren, es gebe auch gute Gründe dafür, sagt der Fachmann für Rechts­extre­mis­mus und Radika­li­sie­rung. «Auf der anderen Seite gibt es aber eine Art Themen-Hopping von Akteu­ren, die eigent­lich andere Inter­es­sen haben, die letzt­lich die libera­le Demokra­tie abschaf­fen wollen.» Der Wissen­schaft­ler warnt davor, Begriff­lich­kei­ten wie «Wut-Winter» zu überneh­men, «die von den Akteu­ren selbst ins Feld gesetzt wurden».

Er spricht statt­des­sen von einem «Herbst und Winter der Disso­nan­zen». Disso­nan­zen, die aber auch gewalt­sa­me Züge anneh­men könnten. «Das ist kein unrea­lis­ti­sches Szena­rio, schlicht auch weil die Akteu­re, die daran betei­ligt sind, sich in den letzten Jahren schon radika­li­siert und auch profes­sio­na­li­siert haben.» Etwa, wenn es darum gehe, den Staat und die Polizei vorzu­füh­ren. «Und es geht eben nicht nur um ein Thema, sondern um eine verall­ge­mei­ner­te Systemfeindschaft.»

Sicher­heits­be­hör­den

System­feind­schaft — das ruft automa­tisch die Sicher­heits­be­hör­den auf den Plan. Sie verfol­gen derzeit genau, ob legiti­me Protes­te von Extre­mis­ten unter­wan­dert werden. Das Bundes­amt für Verfas­sungs­schutz beobach­tet nach eigenen Angaben, «dass eine radika­li­sier­te Minder­heit aus Rechts­extre­mis­ten, Delegi­ti­mie­rern, Reichs­bür­gern und Verschwö­rungs­gläu­bi­gen sich in Stellung bringt, um Themen wie den Krieg in der Ukrai­ne, steigen­de Preise, Infla­ti­on und die Corona-Pande­mie zu beset­zen und zur Mobili­sie­rung zu missbrauchen».

Hinzu komme, dass Russland Cyber­an­grif­fe und Desin­for­ma­ti­on als hybri­de Hebel einset­ze, um die Gesell­schaft in Deutsch­land zu spalten. «Wir beobach­ten genau, ob sich die verba­le Agita­ti­on im Inter­net in einer Mobili­sie­rung für verfas­sungs­schutz­re­le­van­te Aktivi­tä­ten in der Realwelt nieder­schlägt», erklärt das Verfas­sungs­schutz­amt. «Bisher gibt es noch keine Anzei­chen für flächen­de­cken­de staats­feind­li­che Protes­te oder gar gewalt­tä­ti­ge Massenkrawalle.»

Thürin­gens Verfas­sungs­schutz­prä­si­dent Stephan Kramer formu­liert ähnlich, aber drasti­scher. Corona-Pande­mie und Ukrai­ne-Krieg hätten zu einer «hochemo­tio­na­li­sier­ten, aggres­si­ven, zukunfts­pes­si­mis­ti­schen Stimmung in der Bevöl­ke­rung» geführt, sagte er jüngst dem ZDF. Das Vertrau­en in den Staat, seine Insti­tu­tio­nen und politisch Handeln­den sei zumin­dest teilwei­se massi­ven Zweifeln ausge­setzt. Dazu kämen vor allem rechts­extre­me Kräfte, aber auch auslän­di­sche Akteu­re, die seit Jahren versuch­ten, das Vertrau­en in Staat und Demokra­tie durch Hass, Hetze, Delegi­ti­mie­rung und Fake News zu zerstören.

«Das ist eine hochemo­tio­na­le und explo­si­ve Stimmung, die leicht eskalie­ren könnte», warnte Kramer. «Massen­pro­tes­te und Krawal­le sind ebenso vorstell­bar, wie aber auch konkre­te Gewalt­ta­ten gegen Sachen und Perso­nen, sowie klassi­scher Terro­ris­mus mit dem Ziel eines Umstur­zes.» Die Corona-Protes­te der vergan­ge­nen Jahre in sozia­len Netzwer­ken und auf den Straßen seien vergli­chen damit «wahrschein­lich eher ein Kinder­ge­burts­tag» gewesen.

Gegen­mit­tel

Kanzler Scholz ging in seiner Sommer­pres­se­kon­fe­renz davon aus, dass es nicht zu sozia­len Unruhen kommen werde. «Und zwar deshalb, weil Deutsch­land ein Sozial­staat ist.» SPD, Grüne und FDP werden nicht müde zu betonen, dass sie zur Entlas­tung der Bürger bereits zwei Entlas­tungs­pa­ke­te von zusam­men rund 30 Milli­ar­den Euro geschnürt hätten. Um ein drittes Paket ringen die Ampel-Partei­en gerade.

Der Sozio­lo­ge Quent gibt aller­dings zu beden­ken: «Ein Großteil der Protes­te — das haben wir in den vergan­ge­nen Jahren gesehen — ist eben nicht aus einer materi­el­len Betrof­fen­heit heraus organi­siert. Gerade die verschwö­rungs­ideo­lo­gi­schen rechten Protes­te haben ja nicht für sozia­le Gerech­tig­keit, Gleich­heit oder höhere Steuern demonstriert.»

Für Verfas­sungs­schüt­zer Kramer kommt es auf «die Strate­gie der Krisen­be­wäl­ti­gung und vor allem die Krisen­kom­mu­ni­ka­ti­on der politisch Handeln­den» an. «Das Vertrau­en der Bevöl­ke­rung in die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen und Behör­den wird meines Erach­tens entschei­dend dafür sein, ob der sozia­le Frieden erhal­ten bleibt und wir diese Krise gemein­sam bewäl­ti­gen», sagte er dem ZDF.

Von Ulrich Stein­kohl, dpa