BERLIN (dpa) — Nach langem Gezer­re soll das Gesund­heits­we­sen digita­ler werden. Vor einem Jahr starte­te eine elektro­ni­sche Akte fürs Handy. Kommt sie 2022 mit einigen Neuerun­gen stärker auf Touren?

Röntgen­bil­der, Arztbe­fun­de, Medika­men­ten­lis­ten: Seit einem Jahr können Versi­cher­te Gesund­heits­da­ten digital parat haben — auf elektro­ni­schen Patien­ten­ak­ten (ePA), abruf­bar per Smart­phone. Sie sollen 2022 mehr Funktio­nen dazubekommen.

Verbrau­cher­schüt­zer und Kranken­kas­sen setzen überhaupt auf noch deutlich mehr digita­len Schub. Darauf zielen auch Pläne der neuen Bundes­re­gie­rung aus SPD, FDP und Grünen. Für die freiwil­li­ge Nutzung der E‑Akten soll laut Koali­ti­ons­ver­trag künftig das Prinzip «Opt out» gelten — also dass man aktiv wider­spre­chen muss, wenn man sie nicht verwen­den möchte.

Der Chef der Techni­ker Kranken­kas­se, Jens Baas, sagte der Deutschen Presse-Agentur: «Um die Akzep­tanz zu steigern, ist es ein richti­ger Schritt, dass jeder Versi­cher­te die Akte künftig automa­tisch bei der Geburt bekommt und sich eine lebens­lan­ge Gesund­heits­his­to­rie aufbaut. Wer das nicht möchte, kann jeder­zeit wider­spre­chen.» Das jetzi­ge «Opt-in»-Prinzip lege Nutzern durch mehrstu­fi­ge Zustim­mungs­ver­fah­ren unnötig Steine in den Weg. «Entschei­dend ist dann aber, dass die Ärzte die Akte auch befül­len», sagte Baas. Und Voraus­set­zung dafür sei, dass alle Praxen und Klini­ken technisch dazu in der Lage seien.

Noch gibt es bei der vorge­se­he­nen flächen­de­cken­den Vernet­zung der ePA aber Verzö­ge­run­gen wegen teils fehlen­der Ausstat­tung. So brauchen Praxen Updates für ein Verbin­dungs­ge­rät (Konnek­tor) zur geschütz­ten Daten­au­to­bahn des Gesund­heits­we­sens, wie das Bundes­mi­nis­te­ri­um erläu­tert. Die seien nach Herstel­ler­an­ga­ben nunmehr «zum großen Teil» erfolgt. Für nötige Updates der Praxis­ver­wal­tungs­sys­te­me hätten aber einige Herstel­ler die Entwick­lung «nicht zeitge­recht abgeschlossen».

Die E‑Akte als freiwil­li­ges Angebot für die 73 Millio­nen gesetz­lich Versi­cher­ten war am 1. Januar 2021 mit einer Testpha­se gestar­tet. «Die bishe­ri­gen Nutzer­zah­len haben noch ganz viel Luft nach oben», sagte der Chef des Verbrau­cher­zen­tra­le Bundes­ver­bands (vzbv), Klaus Müller, der dpa. Viele Anwen­dun­gen seien damit effizi­en­ter auf den Weg zu bringen, im Inter­es­se der Patien­ten, aber auch des Gesund­heits­we­sens — etwa welche Medika­men­te zusam­men­pas­sen. Das von SPD, Grünen und FDP geplan­te «Opt-out»-Prinzip sei in dieser Konstel­la­ti­on in Ordnung, da es die Möglich­keit gebe, selbst­be­stimmt zu entscheiden.

Bei der Techni­ker Kranken­kas­se nutzen ein Jahr nach dem Start 230 000 Versi­cher­te die E‑Akte, wie das Unter­neh­men mitteil­te. Am stärks­ten ist die Verwen­dung demnach unter 26- bis 35-Jähri­gen mit 28 Prozent. Beson­ders beliebt seien Erinne­run­gen etwa an Vorsor­ge­un­ter­su­chun­gen oder das Herun­ter­la­den vorhan­de­ner Daten über Impfun­gen, verord­ne­te Medika­men­te und Arztbe­su­che, um nicht mit leerer Akte zu starten.

Verbrau­cher­schüt­zer Müller beton­te generell, die Patien­ten müssten Herren ihrer Daten bleiben. Zudem müsse das System sicher sein. «Nieman­dem geht etwas an, unter welchen Aller­gien ich leide, welche Kranken­ge­schich­te ich habe.» Wichtig sei, dass man entschei­den könne, welche Daten man welchem Arzt zur Verfü­gung stelle. Ab dem neuen Jahr sollen Patien­ten das nun auch in verfei­ner­ter Form für jedes einzel­ne Dokument festle­gen können. Daten­schüt­zer hatten dies angemahnt.

«Der Nutzen für die Patien­ten muss jetzt endlich in den Vorder­grund rücken», sagte Müller. Kommen sollen dafür 2022 auch neue Funktio­nen der ePA: der Mutter­pass, das gelbe Unter­su­chungs­heft für Kinder, das Zahn-Bonus­heft, der Impfpass. Die vorge­se­he­ne zweite Ausbau­stu­fe der App soll ab 1. Januar an den Start gehen, erläu­ter­te das Minis­te­ri­um. Auch dafür müssen Praxen aber techni­sche Voraus­set­zun­gen erfüllen.

Die bishe­ri­ge Einfüh­rung sei kein Ruhmes­blatt, und daran hätten viele mitge­wirkt, sagte vzbv-Chef Müller. «Der Wider­stand aus der Ärzte­schaft ist einer, über den der Berufs­stand sehr selbst­kri­tisch nachden­ken sollte.» Unter Ärzten gibt es Frust, nachdem der frühe­re Minis­ter Jens Spahn (CDU) nach jahre­lan­gem Gezer­re mehre­re digita­le Anwen­dun­gen forciert hatte. Ärzte­prä­si­dent Klaus Reinhardt beklag­te kürzlich häufi­ge Störun­gen sowie teils fehlen­de Technik und forder­te: «Tempo raus aus der überhas­te­ten Digita­li­sie­rung». Vorerst sollte man sich darauf konzen­trie­ren, Anwen­dun­gen ausgie­big auf Praxis­taug­lich­keit und tatsäch­li­chen Versor­gungs­nut­zen zu testen.

Von Sascha Meyer, dpa