BROKSTEDT (dpa) — Nach der tödli­chen Messer­at­ta­cke in einem Regio­nal­zug überwog bislang die Trauer­ar­beit. Nun gibt es Forde­run­gen nach mehr Sicher­heit in Zügen. Zudem gerät die Hambur­ger Justiz­se­na­to­rin in die Kritik.

Der Umgang der Behör­den mit dem mutmaß­li­chen Täter rückt Tage nach der tödli­chen Messer­at­ta­cke in einem Regio­nal­zug im schles­wig-holstei­ni­schen Brokstedt verstärkt in den Blick­punkt. So wirft der Resozia­li­sie­rungs­exper­te Bernd Maeli­cke der Hambur­ger Justiz­se­na­to­rin Anna Galli­na (Grüne) im «Hambur­ger Abend­blatt» vor, das 2019 beschlos­se­ne Hambur­ger Gesetz zu Resozia­li­sie­rung und Opfer­schutz (ResOG) ignoriert zu haben.

Das Gesetz soll verhin­dern, dass Ex-Häftlin­ge in ein «Entlas­sungs­loch fallen», wenn sich die Gefäng­nis­to­re öffnen. Galli­na kenne es offen­sicht­lich nicht, jeden­falls könne es nicht angewen­det worden sein, sagte der Jurist Maeli­cke, der Initia­tor mehre­rer Landes-Resozia­li­sie­rungs­ge­set­ze ist, der Zeitung. «Sie trägt als Senato­rin die Verantwortung».

Das war passiert

Bei der Tat in der Regio­nal­bahn von Kiel nach Hamburg starben zwei Menschen, fünf wurden schwer verletzt. Gegen Ibrahim A. wurde Haftbe­fehl wegen zweifa­chen Mordes und versuch­ten Totschlags in vier Fällen erlas­sen. Erst wenige Tage vor der Bluttat im Regio­nal­zug war A., ein 33 Jahre alter staaten­lo­ser Paläs­ti­nen­ser, in Hamburg aus der Unter­su­chungs­haft freigekommen.

Auch für den Hambur­ger CDU-Frakti­ons­chef Dennis Thering zeigt der Fall aufs Neue, dass die Hambur­ger Justiz völlig überfor­dert und Galli­na der Aufga­be nicht gewach­sen sei. «Sie taucht einmal mehr ab, statt Antwor­ten zu geben und Proble­me zu lösen», kriti­siert Thering im «Hambur­ger Abend­blatt». Erste Antwor­ten erwar­tet er am Donners­tag im Justiz­aus­schuss der Hambur­gi­schen Bürger­schaft. Die Senato­rin hatte angekün­digt, dort zu den Hambur­ger Aspek­ten der Tat zu berichten.

In Düssel­dorf soll der Rechts­aus­schuss des nordrhein-westfä­li­schen Landtags ebenfalls kommen­de Woche zu einer Sonder­sit­zung zusam­men­kom­men. A. war in der Vergan­gen­heit sowohl in NRW als auch in Hamburg mit Gewalt­de­lik­ten aufgefallen.

Täter zu früh aus der U‑Haft entlassen?

Der Vorsit­zen­de der Arbeits­ge­mein­schaft Migra­ti­ons­recht im Deutschen Anwalt­ver­ein (DAV), Thomas Oberhäu­ser, vernein­te am Samstag im Deutsch­land­funk die Frage, ob Justiz und Verwal­tung die Tat hätten verhin­dern können. Er verwies auf recht­li­che Abwägun­gen und Vorga­ben in Unter­su­chungs­haft-Fällen. Justiz und Verwal­tung hätten allen­falls die Tat dadurch verhin­dern können, dass sie ihn weiter­hin in Unter­su­chungs­haft gehal­ten hätten, so Oberhäu­ser. «Aber da hat die Justiz entschie­den, dass das unver­hält­nis­mä­ßig gewesen wäre angesichts der ihm vorge­wor­fe­nen Tat.»

Nach Angaben Maeli­ckes schreibt Paragraf 9 des Hambur­ger ResOG einen verbind­li­chen Einglie­de­rungs­plan vor mit Regelun­gen zur sozia­len Situa­ti­on, zum Aufent­halts­ort, zu Sucht­ver­hal­ten und zur Siche­rung des Lebens­un­ter­halts. «Auch die im Gesetz vorge­se­he­nen Maßnah­men zur Präven­ti­on sind in diesem Einzel­fall nicht erkenn­bar», kriti­sier­te er im «Hambur­ger Abendblatt».

Motiv ist weiter unklar

Das Motiv des Tatver­däch­ti­gen ist unter­des­sen weiter unklar. Ibrahim A. hat nach Angaben seines Anwalts beim Haftrich­ter-Termin keine Aussa­gen zur Sache gemacht. Nach Vorlie­gen von Ermitt­lungs­er­geb­nis­sen werde er mit seinem Mandan­ten sprechen, sagte Anwalt Björn Seelbach der Deutsche Presse-Agentur am Samstag auf Anfrage.

Der Fahrgast­ver­band «Pro Bahn» und die Gewerk­schaft Deutscher Lokomo­tiv­füh­rer GDL sprechen sich laut einem Bericht der «Lübecker Nachrich­ten» (Sonntag/Montag) unter­des­sen für mehr Sicher­heits­maß­nah­men in den Zügen aus. «Wir fordern einen flächen­de­cken­den Ausbau der Video­über­wa­chung in allen Waggons», sagt Karl-Peter Naumann von «Pro Bahn». Das könne Krimi­na­li­tät in den Zügen womög­lich nicht immer verhin­dern. «Es hilft aber in jedem Fall, die Täter zu fassen. Und das ist insbe­son­de­re für die Opfer von hoher Bedeutung.»

Die GDL trifft dem «LN»-Bericht zufol­ge in Kürze mit der landes­ei­ge­nen Verkehrs­ge­sell­schaft Nah.SH, um über die Konse­quen­zen aus dem Angriff zu beraten. «Wir fordern schon seit Langem mehr Sicher­heits­maß­nah­men in den Zügen», sagte der GDL-Bezirks­vor­sit­zen­de Hartmut Peter­sen der Zeitung zufolge.

Laut Dennis Fiedel von Nah.SH verfü­gen alle neueren Regio­nal­zü­ge, die seit 2015 im Einsatz sind, über Video­tech­nik, wie die «Kieler Nachrich­ten» am Samstag schrei­ben. Doch der RE 70, in dem sich die Messer­at­ta­cke abspiel­te, war ein Ersatz­zug ohne Videoaufzeichnung.