STUTTGART (dpa/lsw) — Der Radika­len­er­lass sollte einst eine Unter­wan­de­rung des Staates verhin­dern — er zerstör­te hinge­gen viele Karrie­ren. Betrof­fe­ne fordern seit Jahren Rehabi­li­ta­ti­on. Winfried Kretsch­mann, der einst selbst fast über den Erlass gestol­pert wäre, geht auf die Opfer zu.

Rund 50 Jahre nach dem Beschluss des Radika­len­er­las­ses hat sich Minis­ter­prä­si­dent Winfried Kretsch­mann bei den zu Unrecht Betrof­fe­nen entschul­digt. «Eine ganze Genera­ti­on wurde unter Verdacht gestellt, das war falsch. Einzel­ne mögen dann zu Recht sanktio­niert worden sein, manche aber eben auch nicht», schreibt der Grünen-Politi­ker in einem Brief, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, an die Betrof­fe­nen. «Sie haben zu Unrecht durch Gesin­nungs-Anhörun­gen, Berufs­ver­bo­te, langwie­ri­ge Gerichts­ver­fah­ren, Diskri­mi­nie­run­gen oder auch Arbeits­lo­sig­keit Leid erlebt. Das bedaue­re ich als Minis­ter­prä­si­dent des Landes Baden-Württem­berg sehr.» Bislang habe sich kein Regie­rungs­chef eines Landes in der Form geäußert, hieß es aus dem Staatsministerium.

Mit dem Radika­len­er­lass aus dem Jahr 1972 sollte eine Unter­wan­de­rung des Staates verhin­dert werden. Die Gefahr von Links beunru­hig­te die damals noch junge Bundes­re­pu­blik. Der Beschluss des ersten sozial­de­mo­kra­ti­schen Kanzlers Willy Brandt und der Minis­ter­prä­si­den­ten der Länder sah unter anderem vor, dass vor jeder Einstel­lung in den öffent­li­chen Dienst eine Anfra­ge beim Verfas­sungs­schutz gestellt werden muss. So sollte der Staats­ap­pa­rat vor mögli­chen Verfas­sungs­fein­den geschützt werden.

Der Bund und die sozial­de­mo­kra­tisch regier­ten Länder rückten bereits 1979 wieder von dem Beschluss ab. Bayern schaff­te ihn als letztes Bundes­land im Jahr 1991 ab. Wie viele Menschen betrof­fen waren, ist bis heute nicht abschlie­ßend geklärt. Die Schät­zun­gen reichen nach Angaben der Hambur­ger Forschungs­stel­le für Zeitge­schich­te von 1,8 bis 3,5 Millio­nen Verfas­sungs­schutz-Anfra­gen. Bundes­weit seien etwa 1000 bis 2000 Menschen nicht einge­stellt worden. Damit sei vielen Menschen die Berufs- und Lebens­per­spek­ti­ve genom­men worden.

Kretsch­mann schreibt in dem Brief, der Radika­len­er­lass habe viel mehr Schaden angerich­tet als Nutzen gestif­tet. «Ein großer Teil der damals jungen Genera­ti­on kam ohne beson­de­ren Anlass in den General­ver­dacht, nicht verfas­sungs­treu zu sein», betont er.

«Für dieje­ni­gen, die auf dem Rechts­weg nachtei­li­ge Entschei­dun­gen revidie­ren konnten, waren es belas­ten­de und zermür­ben­de Kämpfe», bilan­ziert der Minis­ter­prä­si­dent. «Andere, die diese Kämpfe nicht führen konnten oder wollten, tragen seither die beruf­li­chen und biogra­fi­schen Folgen des mangeln­den Augen­ma­ßes und dazu damit einher­ge­hen­de Kränkungen.»

Der 74-Jähri­ge wäre damals auf dem Weg in den Lehrer­be­ruf selbst fast über den Erlass gestol­pert. Kretsch­mann bezieht sich in dem Brief auf seine links­ra­di­ka­le Studi­en­zeit, die er als «größte Verir­rung» seines Lebens bezeich­net. «Mich erschreckt noch heute, dass ein Mensch, selbst wenn er das Glück einer guten Ausbil­dung hatte wie ich, einen solchen «Tunnel­blick» entwi­ckeln und sich derart in eine verblen­de­te Weltsicht einboh­ren kann.»

Kretsch­mann bot den Betrof­fe­nen dem Staats­mi­nis­te­ri­um zufol­ge nun ein Gespräch an. Eine Rehabi­li­tie­rung und Entschä­di­gung sei jedoch nicht vorge­se­hen, weil eine Einzel­fall­prü­fung kaum umzuset­zen sei und weil Akten teils gar nicht mehr vorlä­gen, hieß es.

Von Nico Point­ner, dpa