Die steigen­den Corona-Infek­ti­ons­zah­len haben die Veran­stal­ter der Tour de France zu weite­ren Einschrän­kun­gen bei den Zuschau­ern gezwun­gen. Am Samstag soll die 3484,2 Kilome­ter lange Reise begin­nen. Ob der Tross tatsäch­lich Paris erreicht?

Die große Fete als Ouver­tü­re zur 107. Tour de France fand nur in kleinem Rahmen statt. Nachdem im Vorjahr mehr als 75.000 Fans in Brüssel die Fahrer und Rad-Legen­de Eddy Merckx bejubel­ten, verlo­ren sich diesmal weniger als die erlaub­ten 1000 Zuschau­er vor der großen Bühne in Nizza.

Aus gutem Grund. Die Region an der Côte d’Azur ist seit Donners­tag wegen der stark anstei­gen­den Corona-Infek­ti­ons­zah­len zur «Roten Zone» erklärt worden — wie 20 weite­re Dépar­te­ments der Grande Nation auch. Masken­pflicht ist auch im Freien obers­tes Gebot, entspre­chend präsen­tier­te sich Deutsch­lands Hoffnungs­trä­ger Emanu­el Buchmann mit einem schicken Mundschutz im Team-Outfit und der Aufschrift: «Bonjour Le Tour». Doch auch der deutsche Radstar stell­te fest: «Die Party­stim­mung ist nicht da.»

Statt­des­sen wurden die 176 Fahrer auf eine Reise ins Ungewis­se geschickt. Ob die Tour tatsäch­lich nach 3484,2 Kilome­tern die Haupt­stadt Paris — für die es laut Robert-Koch-Insti­tut übrigens auch eine Reise­war­nung gibt — errei­chen wird, ist mehr als fraglich. Die Infek­ti­ons­zah­len steigen seit Tagen rapide an, das franzö­si­sche Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um vermel­de­te nun erstmals über 6000 positi­ve Fälle an einem Tag.

Und das Virus macht auch keinen Umweg um die Teams. Am Donners­tag gab es beim belgi­schen Rennstall Lotto-Soudal zwei «nicht-negati­ve» Fälle, was auch eine schöne Umschrei­bung ist. Die zwei Betreu­er wurden wie ihre zwei Zimmer­kol­le­gen nach Hause geschickt. Es bleibt zu befürch­ten, dass es nicht die letzten Fälle sind.

Das Team um die beiden deutschen Lotto-Fahrer John Degen­kolb und Roger Kluge hatte nichts zu befürch­ten. Ein Ausschluss stand nicht zur Debat­te, auch weil kurzfris­tig das Regle­ment abgemil­dert wurde. Nur noch bei mindes­tens zwei positi­ven Corona-Tests von Fahrern einer Mannschaft in einem Zeitraum von sieben Tagen wird der gesam­te Rennstall ausge­schlos­sen. Damit zählt nicht mehr das direk­te Umfeld wie Physio­the­ra­peu­ten, Busfah­rer oder Team-Offizi­el­le dazu. Der Veran­stal­ter hat offen­bar einge­se­hen, dass sonst womög­lich nur noch eine kleine Gruppe von Fahrern hätte das Rennen zu Ende fahren können.

Ein Abbruch schwebt ohnehin «wie ein Damokles­schwert über uns», sagte Tony Martin im dpa-Inter­view und befürch­tet, «dass jeder Tag der letzte sein kann». Dem Routi­nier, der zum zwölf­ten Mal beim Grand Départ dabei ist, ist die Lage bewusst. «Die Situa­ti­on verschlech­tert sich von Tag zu Tag», gibt der Radpro­fi zu beden­ken und kann nicht verste­hen, dass Zuschau­er erlaubt sind: «Lieber eine Tour ohne Zuschau­er als gar keine Tour.» Und Buchmann fügte hinzu: «Wir können nur unser Bestes geben, das Gesund­heits­pro­to­koll einhal­ten und hoffen, dass es durch die Tour keine neuen Infek­tio­nen gibt. Das andere haben wir nicht in der Hand.»

Zumin­dest für die ersten beiden Tage wurden die Maßnah­men verschärft. Statt der maximal 5000 Zuschau­er im Start- und Zielbe­reich sollen nur noch einige Dutzend Perso­nen erlaubt sein. Also ein Tour-Start «fast hinter verschlos­se­nen Türen», wie es Bernard Gonza­lez als Präfekt der Alpes-Mariti­mes-Region ankün­dig­te. Auch der Zugang zu den Bergen wird stark limitiert. «Wenn ich den Zuschau­ern einen Rat geben kann: Schau­en sie sich die Anstie­ge im Fernse­hen an.»

So muss auch Tourchef Chris­ti­an Prudhom­me allmäh­lich von seiner Maxime abrücken, die stets laute­te: «Eine Tour hinter verschlos­se­nen Türen macht keinen Sinn.» Ein Szena­rio, was Exper­ten wie Pharma­ko­lo­ge Fritz Sörgel als «unver­ant­wort­lich» bezeich­net haben. Für die Radteams ist die Tour indes fast schon überle­bens­wich­tig, werden doch 70 Prozent des Jahres­etats dort generiert.

Sport­lich steht aus deutscher Sicht Emanu­el Buchmann im Blick­punkt. Für Teamchef Ralph Denk wäre eine vorde­re Platzie­rung des Kletter­spe­zia­lis­ten nach dem Sturz bei der Dauphi­né-Rundfahrt wie «ein Sechser im Lotto», doch der Vorjah­res­vier­te will sich von seinen Zielen noch nicht verab­schie­den. Das Podium habe er noch im Hinter­kopf, so der Ravens­bur­ger: «Der erste Plan ist, auf Gesamt­wer­tung zu fahren, und dann schau­en wir, wie es funktioniert.»

Glaubt man den Exper­ten, wird der Toursieg aber unter Vorjah­res­sie­ger Egan Bernal aus Kolum­bi­en und Vuelta-Champi­on Primoz Roglic ausge­macht. Der Titel­ver­tei­di­ger hat bereits die Favori­ten­rol­le dem Ex-Skisprin­ger aus Slowe­ni­en zugescho­ben. «Er war bei den letzten Rennen der Stärks­te. Er ist geflo­gen», sagt Bernal und verweist auch auf dessen starkes Jumbo-Visma-Team, dem auch Tony Martin angehört. «Wir sind uns der Sache nicht zu sicher. Aber man kann auch nicht tiefsta­peln und sagen: ‘Ineos ist der Topfa­vo­rit.’ Die Rolle haben wir uns in den letzten Wochen ganz klar erfah­ren», sagt Martin.

Die Franzo­sen hoffen indes auf Thibaut Pinot. Für ihn wäre im vergan­ge­nen Jahr der Tour-Sieg schon drin gewesen, hätte ihn nicht ein Muskel­fa­ser­riss im Oberschen­kel zur Aufga­be gezwun­gen. Klappt es diesmal mit dem ersten franzö­si­schen Sieg seit Bernard Hinault vor 35 Jahren?

Die Strecke kommt den Bergspe­zia­lis­ten entge­gen. Schon am zweiten Tag geht es ins Hochge­bir­ge. Danach warten noch vier Bergan­künf­te auf die Fahrer. Die Entschei­dung dürfte am vorletz­ten Tag beim Bergzeit­fah­ren in La Planche des Belles Filles fallen — wenn es die Tour bis dahin schafft.