BRÜSSEL/MOSKAU (dpa) — Sind die Berich­te über einen Rückzug Russlands aus dem Grenz­ge­biet zur Ukrai­ne ein Täuschungs­ma­nö­ver? Die Nato schließt das nicht aus; auch Scholz und Biden zweifeln an den Entspannungssignalen.

Der Westen äußert erheb­li­che Zweifel an dem von Russland angekün­dig­ten Teilab­zug von Truppen zur Entspan­nung des Ukrai­ne-Konflikts. Das Risiko einer Aggres­si­on besteht nach Einschät­zung von Bundes­kanz­ler Olaf Scholz und US-Präsi­dent Joe Biden weiter.

Beide seien sich während eines Telefo­nats einig gewesen, dass die Situa­ti­on in der Region angesichts des massi­ven russi­schen Truppen­auf­mar­sches im Grenz­ge­biet zur Ukrai­ne als überaus ernst einzu­schät­zen sei, erklär­te der Sprecher der Bundes­re­gie­rung, Steffen Hebestreit. Ein signi­fi­kan­ter Rückzug russi­scher Truppen sei bislang nicht zu beobach­ten, höchs­te Wachsam­keit sei erforderlich.

Beide Politi­ker begrüß­ten Äußerun­gen des russi­schen Präsi­den­ten Wladi­mir Putin, dass diplo­ma­ti­sche Bemühun­gen fortge­setzt werden sollten. Es gelte, sie nun mit Hochdruck weiter­zu­ver­fol­gen. Es komme darauf an, in einen konstruk­ti­ven Dialog zu Fragen der europäi­schen Sicher­heit einzu­stei­gen, zur Umset­zung der Minsker Abkom­men zu gelan­gen und mit Unter­stüt­zung Deutsch­lands und Frank­reichs im Norman­die-Format voranzukommen.

Der Schlüs­sel dafür liegt Scholz und Biden zufol­ge in Moskau. Russland müsse echte Schrit­te zur Deeska­la­ti­on einlei­ten. Im Falle einer weite­ren militä­ri­schen Aggres­si­on gegen die terri­to­ria­le Integri­tät und Souve­rä­ni­tät der Ukrai­ne habe Russland mit außer­or­dent­lich gravie­ren­den Konse­quen­zen zu rechnen.

Auch Nato hegt Zweifel

«Bislang haben wir vor Ort keine Deeska­la­ti­on gesehen. Im Gegen­teil: Russland scheint den Militär­auf­marsch fortzu­set­zen», sagte auch Nato-General­se­kre­tär Jens Stolten­berg in Brüssel. Die USA sahen ebenfalls keine Anzei­chen für ein Ende des Aufmar­sches russi­scher Solda­ten an der ukrai­ni­schen Grenze.

Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj sprach von der einen oder anderen Rotati­on, die man aber nicht als Abzug bezeich­nen könne. Es sei noch zu früh, um sich zu freuen, so Selen­skyj. Dagegen versuch­te das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in Moskau, mit einem Video vom Abzug eigener Solda­ten von der von Russland einver­leib­ten Halbin­sel Krim Beden­ken des Westens entgegenzutreten.

Einmal mehr machten sich Russland und der Westen gegen­sei­tig Vorwür­fe, für die Zuspit­zung des Konflikts verant­wort­lich zu sein. In Moskau kriti­sier­te der Sicher­heits­rat, die USA hätten zur Abschre­ckung Russlands eigene Truppen mit einer Stärke von 60.000 Solda­ten, 200 Panzern und 150 Kampf­flug­zeu­gen in Europa statio­niert. Das sagte der stell­ver­tre­ten­de Sekre­tär des Sicher­heits­rats, Michail Popow, der Regie­rungs­zei­tung «Rossijs­ka­ja Gaseta».

Der Westen weiter in Sorge

Der Westen ist dagegen seit Wochen wegen eines russi­schen Truppen­auf­marschs nahe der ukrai­ni­schen Grenze in Sorge. Zudem hält das russi­sche Militär mehre­re Manöver ab, darun­ter auch im Nachbar­land Belarus direkt an der Grenze zur Ukrai­ne. Nach der Übung, die am Sonntag enden soll, würde alle Truppen abgezo­gen, hieß es. Am Diens­tag hatte Moskau den Abzug erster Truppen nach Ende von Manövern angekün­digt — und damit ein Signal der Entspan­nung gesendet.

Am Mittwoch berich­te­te das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um, dass Solda­ten von der Krim im Schwar­zen Meer in ihre Kaser­nen zurück­ge­kehrt seien. Es veröf­fent­lich­te ein Video, das einen Zug mit Panzern und anderen Militär­fahr­zeu­gen auf der Krim-Brücke zeigt. Die Brücke führt von der Halbin­sel, die sich Russland 2014 einver­leibt hatte, aufs russi­sche Festland. Auf der Krim ist zudem Militär dauer­haft stationiert.

US-Außen­mi­nis­ter Antony Blinken zweifel­te die russi­sche Darstel­lung im Fernseh­sen­der MSNBC an. Es wäre gut, «wenn sie ihren Worten Taten folgen lassen würden, aber bis jetzt haben wir das nicht gesehen», sagte er. Russi­sche Solda­ten «bleiben in einer sehr bedroh­li­chen Weise entlang der ukrai­ni­schen Grenze versammelt».

Geht um Ernst­haf­tig­keit der Signale

Bundes­ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin Chris­ti­ne Lambrecht unter­strich ebenfalls, es sei wichtig, dass nicht nur Truppen abgezo­gen würden, die sowie­so abgezo­gen werden sollten. «Wie ernst gemeint, wie nachhal­tig sind diese Signa­le? Darum geht es.»

Ähnlich äußer­te sich Nato-General­se­kre­tär Stolten­berg. Bewegun­gen von Truppen und Kampf­pan­zern bewie­sen noch nicht, dass es einen echten Rückzug gebe. «Sie haben Truppen immer vor und zurück bewegt.» Russland behal­te die Fähig­keit, ohne jegli­che Vorwarn­zeit eine umfas­sen­de Invasi­on zu begin­nen, sagte er.

Dagegen warf der Kreml dem Militär­bünd­nis vor, die Lage nicht richtig zu beurtei­len. Noch deutli­cher wurde die Spreche­rin des russi­schen Außen­mi­nis­te­ri­ums, Maria Sacha­rowa: «Diese Erklä­run­gen, die Stolten­berg abgibt (…), inter­es­sie­ren uns nicht.»

In Brüssel berie­ten unter­des­sen die Vertei­di­gungs­mi­nis­ter der 30 Nato-Staaten über Pläne für eine zusätz­li­che Abschre­ckung Russlands und billig­ten Vorbe­rei­tun­gen für eine Entsen­dung weite­rer Kampf­trup­pen ins östli­che Bündnis­ge­biet. Die zusätz­li­chen Battle­groups könnten nach Angaben von Stolten­berg in Osteu­ro­pa, Südost­eu­ro­pa und Zentral­eu­ro­pa statio­niert werden. Frank­reich habe bereits angebo­ten, einen multi­na­tio­na­len Gefechts­ver­band in Rumäni­en zu führen, sagte der Norwe­ger am Mittwoch nach mehrstün­di­gen Beratun­gen in Brüssel. Die militä­ri­schen Befehls­ha­ber sollten nun an Details arbei­ten und inner­halb von Wochen wieder Bericht erstatten.

Statio­nie­rung multi­na­tio­na­ler Kampftruppen

Die bereits in der vergan­ge­nen Woche grund­sätz­lich verein­bar­ten Planun­gen sehen vor, insbe­son­de­re auch in südwest­lich der Ukrai­ne gelege­nen Nato-Ländern weite­re multi­na­tio­na­le Kampf­trup­pen zu statio­nie­ren. Bislang gibt es die sogenann­ten Battle­groups nur in Estland, Litau­en und Lettland sowie in Polen.

Ob Deutsch­land sich an einem multi­na­tio­na­len Gefechts­ver­band in Rumäni­en oder einem anderen Land südwest­lich der Ukrai­ne betei­li­gen würde, ist bislang unklar. Lambrecht beton­te, dass über eine dauer­haf­te Verstär­kung der Nato-Ostflan­ke erst in einigen Monaten entschie­den werden solle. Beschlüs­se über eine dauer­haf­te Präsenz sollten «nicht in dieser aktuel­len Situa­ti­on», sondern im Sommer «nach einer inten­si­ven Prüfung und unter Beobach­tung der Situa­ti­on dann» getrof­fen werden, meinte die SPD-Politikerin.

Die aktuel­le Verstär­kung der Ostflan­ke zum Beispiel über die Entsen­dung von rund 350 zusätz­li­chen deutschen Solda­ten nach Litau­en und mit Eurofigh­tern für die Luftraum­über­wa­chung ist demnach nur vorüber­ge­hend und als Abschre­ckung Russlands gedacht. «Es ist wieder die Stunde der Diplo­ma­tie», sagte Lambrecht. «Wir müssen im Gespräch bleiben. Wir sind alle aufge­for­dert, einen Krieg mitten in Europa zu verhindern.»

Russland unter­streicht Dialogbereitschaft

Russlands Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow bekräf­tig­te die Bereit­schaft seines Landes zum Dialog mit dem Westen über die Sicher­heit in Europa — «aber nicht zum Schaden» der grund­sätz­li­chen Positio­nen Russlands. Er machte vor Journa­lis­ten deutlich, dass der Westen sich nun auf einen Dialog einge­las­sen habe, nachdem «wir das Problem der Sicher­heit in Europa verschärft haben».

Nun gebe es die Bereit­schaft, über die Statio­nie­rung von Kurz- und Mittel­stre­cken­ra­ke­ten, über die Trans­pa­renz von Manövern und über die Wieder­her­stel­lung von Kontak­ten zwischen den Militärs Russlands und der Nato-Staaten zu reden, sagte Lawrow.

Der Konflikt soll Thema eines Sonder­tref­fens der Staats- und Regie­rungs­chefs der EU-Mitglieds­län­der an diesem Donners­tag werden. Die Außen­mi­nis­ter der führen­den demokra­ti­schen Wirtschafts­mäch­te wollen sich am Samstag am Rande der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz zu Beratun­gen über die aktuel­le Lage austauschen.

Die Ukrai­ne beging angesichts von US-Warnun­gen vor einem russi­schen Einmarsch einen «Tag der natio­na­len Einheit». In der Haupt­stadt Kiew war über viele Lautspre­cher die Natio­nal­hym­ne zu hören. Zudem wurde vieler­orts die Landes­flag­ge gehisst. Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj sprach von einem wichti­gen Tag für sein Land. Er besuch­te zudem ein Manöver unweit der nordwest­ukrai­ni­schen Stadt Riwne.