STUTTGART (dpa/lsw) — Depres­sio­nen, Ängste, Essstö­run­gen und Neuro­sen — immer mehr Menschen suchen wegen psychi­scher Proble­me den Arzt auf. Das zeigt sich auch in den Krank­schrei­bungs­zah­len. Für die baden-württem­ber­gi­sche Wirtschaft dürfte das zuneh­mend zur Belas­tung werden.

Seeli­sche Beschwer­den wie Depres­sio­nen oder Ängste setzen zuneh­mend auch die baden-württem­ber­gi­sche Wirtschaft unter Druck. Nach Angaben der Barmer-Kranken­kas­se sind psychi­sche Proble­me im vergan­ge­nen Jahr verant­wort­lich gewesen für fast jeden vierten krank­heits­be­dingt ausge­fal­le­nen Arbeits­tag. Die Diagno­se habe Muskel-Skelett-Erkran­kun­gen wie beispiels­wei­se Rücken­schmer­zen an der Spitze der Fehlta­ge-Statis­tik abgelöst. «Keine andere Krank­heits­grup­pe hat in Baden-Württem­berg mehr Fehlta­ge verur­sacht», sagte Barmer-Landes­ge­schäfts­füh­rer Winfried Plötze. «Und jeder ausge­fal­le­ne Tag hat auch direk­te Folgen für einen Arbeitgeber.»

Der Barmer-Landes­chef rechnet damit, dass die psychi­sche Belas­tung und auch die Zahl der entspre­chen­den Kranken­ta­ge durch die aktuell stark steigen­den Preise für Energie und Lebens­mit­tel sowie durch die Infla­ti­on weiter steigen werden. «Krisen sind immer auch eine Belas­tung für die Gesell­schaft», sagte Plötze.

Die Zahl der ausge­fal­le­nen Tage wegen psychi­scher Erkran­kun­gen steigt laut Barmer trotz der Corona-Pande­mie Jahr für Jahr weiter. Entfie­len im Jahr 2014 landes­weit auf 100 Menschen insge­samt 279,9 Tage Fehlzeit wegen einer psychi­schen Störung, so waren es in Baden-Württem­berg im vergan­ge­nen Jahr bereits 330,3 Tage, das sind 23 Prozent der Gesamt­fehl­zeit im Land. Im Jahr 2014 lag dieser Anteil bei 18,5 Prozen­ten, im Vor-Corona-Jahr 2019 bei 20 Prozent.

Aller­dings steht der Südwes­ten im Vergleich zu anderen deutschen Regio­nen laut Barmer noch am besten da. «Baden-Württem­berg ist eigent­lich ein gesun­des Bundes­land», sagte Plötze. Das liege am vergleichs­wei­se hohen Einkom­men, aber auch an der Lebens­qua­li­tät im Land und an der vergleich­bar gerin­gen Arbeits­lo­sig­keit. Bundes­weit waren psychi­sche Erkran­kun­gen für insge­samt 388 Tage Fehlzeit je 100 Menschen verantwortlich.

Laut Kranken­kas­sen-Statis­tik sind Frauen und Männer unter­schied­lich von Seelen­lei­den betrof­fen. Frauen sind in Baden-Württem­berg zum Beispiel häufi­ger wegen einer psychi­schen Störung krank­ge­schrie­ben als Männer. Eine einzel­ne Krank­schrei­bung dauert dagegen bei Männern länger (53,5 Tage pro Fall) als bei Frauen (48,3 Tage). «Männer suchen sich später Hilfe, denn für sie haben Beschwer­den eine organi­sche Ursache», sagte Barmer-Chef Plötze. «Sie gehen beispiels­wei­se erst zum Arzt, wenn sie Rücken­schmer­zen haben. Dass diese psychisch bedingt sein können, der Gedan­ke kommt Männern eher nicht.» Auch die Formen der Erkran­kun­gen unter­schei­den sich: Depres­sio­nen sind beispiels­wei­se eine Krank­heit, unter der vor allem Frauen leiden, Männer werden dagegen häufi­ger wegen Alkohol­pro­ble­men behandelt.

Zudem warnte die Kasse davor, Männer könnten in der Statis­tik «unter­re­prä­sen­tiert» sein. «Mögli­che Gründe könnten das Rollen­ver­ständ­nis und der generell schlech­te­re Umgang von Männern mit der eigenen Gesund­heit sein», sagte Plötze.

Für die Analy­se werte­te die Barmer die Daten von landes­weit 336 000 Menschen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren aus, die im vergan­ge­nen Jahr bei ihr versi­chert waren. Betrof­fen sind laut Barmer vor allem Menschen im Alter zwischen 30 und 49 Jahren (25 Prozent Anteil an den Fehlzei­ten), auch bei jünge­ren Menschen zwischen 15 und 29 Jahren ist die angeschla­ge­ne Psyche für mehr als jeden fünften Fehltag verantwortlich.

Andere Kassen regis­trie­ren ebenfalls eine steigen­de Zahl psychisch beding­ter Beschwer­den und Fehlta­ge — bei Jung und Alt. Die Techni­ker Kranken­kas­se spricht in Baden-Württem­berg von einer «jährli­chen modera­ten Steige­rung der Fehlzei­ten aufgrund psychi­scher Diagno­sen, die seit mehre­ren Jahren zu beobach­ten sei. «Tatsäch­lich fällt der Anstieg von 2020 auf 2021 mit 6,8 Prozent nun aber deutli­cher aus als im Vorjahr mit 3,1 Prozent», sagte eine Spreche­rin. Im Jahr 2021 waren TK-Versi­cher­te in Baden-Württem­berg durch­schnitt­lich 2,51 Tage wegen psychi­schen und Verhal­tens­stö­run­gen krank­ge­schrie­ben. Das sei der höchs­te Anteil aller Diagno­sen, hieß es.

Exper­ten gehen zudem von einer hohen Dunkel­zif­fer der Betrof­fe­nen aus, weil die Hemmschwel­le, bei psychi­schen Proble­men einen Arzt aufzu­su­chen, sehr hoch ist. Durch­schnitt­lich verge­hen acht bis zehn Jahre, bis sich ein Patient in Behand­lung begibt.

Nach Ansicht von Barmer-Landes­ge­schäfts­füh­rer Plötze müssen geschlechts­spe­zi­fi­sche Aspek­te stärker in die Diagnos­tik, die Thera­pie, Präven­ti­on und auch in die Aufklä­rung über psychi­sche Erkran­kun­gen einflie­ßen. Außer­dem sei es wichtig, über die unter­schied­li­chen Sympto­me bei Frauen und Männern zu informieren.