BERLIN (dpa) — Nach den Ausschrei­tun­gen in Berlin bezieht Neuköllns Bezirks­bür­ger­meis­ter Stellung und mahnt an, nicht zu pauscha­li­sie­ren. Unions­po­li­ti­ker fordern derweil Mittel­kür­zun­gen für die Hauptstadt.

Neuköllns Bezirks­bür­ger­meis­ter Martin Hikel (SPD) hat nach den Silves­ter-Krawal­len davor gewarnt, Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund in dem Berli­ner Bezirk pauschal zu Tätern zu erklä­ren. In Teilen Neuköllns hätten bis zu 90 Prozent der Menschen eine Migra­ti­ons­ge­schich­te, sagte Hikel gestern Abend in den ARD-«Tagesthemen». «Ein Großteil der Menschen lebt hier fried­lich, und ein Großteil ist auch unter den Betrof­fe­nen, die Opfer von dieser Gewalt gewor­den sind», sagte er.

Entschei­dend sei statt­des­sen, die ermit­tel­ten Täter schnell vor Gericht zu stellen und zu verur­tei­len, beton­te Hikel. Angesichts der began­ge­nen Straf­ta­ten seien dabei Haftstra­fen von bis zu fünf Jahren möglich. Der Bezirks­bür­ger­meis­ter hatte sich zuvor auch für ein Verkaufs­ver­bot von Feuer­werk ausgesprochen.

Teile des Bezirks Neukölln waren einer der Schwer­punk­te bei den Vorfäl­len in der Silves­ter­nacht. In mehre­ren Städten kam es zu Krawal­len, bei denen auch Einsatz­kräf­te von Polizei und Feuer­wehr angegrif­fen wurden. In Berlin wurden 145 Menschen vorläu­fig festge­nom­men, die meisten davon Männer. Laut Polizei wurden 18 verschie­de­ne Natio­na­li­tä­ten erfasst: 45 der Verdäch­ti­gen hatten die deutsche Staats­an­ge­hö­rig­keit, danach folgten 27 Verdäch­ti­ge mit afgha­ni­scher Natio­na­li­tät und 21 Syrer.

Nordrhein-Westfa­lens Innen­mi­nis­ter Herbert Reul (CDU) bezeich­net die Krawal­le als kein reines Migra­ti­ons­the­ma. Viele der mögli­chen Täter seien ihm zufol­ge jung und männlich gewesen. «Ich weise seit Monaten darauf hin, dass wir ein Problem haben mit Jungen, mit Gruppen junger Männer, migran­ti­schen Hinter­grund und ohne migran­ti­schem Hinter­grund», sagte er im Deutschlandfunk.

Umfra­ge: Mehrheit für generel­les Verbot von priva­tem Feuerwerk

Eine Mehrheit der Bundes­bür­ger ist einer Umfra­ge zufol­ge für ein generel­les bundes­wei­tes Verbot von priva­tem Feuer­werk. 61 Prozent der Deutschen würden dies nach der veröf­fent­lich­ten Erhebung des Meinungs­for­schungs­in­sti­tuts YouGov befür­wor­ten. 41 Prozent sind «voll und ganz» dafür, 20 Prozent «eher». 33 Prozent lehnen ein solches Verbot demnach ab, 6 Prozent machten keine Angabe.

Die Daten wurden am Mittwoch erhoben, also vor dem Hinter­grund der Debat­te über die Silves­ter-Krawal­le mit Angrif­fen auf Einsatz­kräf­te — darauf wurde in der Frage­stel­lung aller­dings nicht expli­zit Bezug genommen.

Faeser will deutsch­land­wei­tes Lagebild erstel­len lassen

Bundes­in­nen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser forder­te klare Konse­quen­zen für die Täter. «Wir haben in deutschen Großstäd­ten ein großes Problem mit bestimm­ten jungen Männern mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, die unseren Staat verach­ten, Gewalt­ta­ten begehen und mit Bildungs- und Integra­ti­ons­pro­gram­men kaum erreicht werden», sagte die SPD-Politi­ke­rin gestern den Zeitun­gen der Funke Medien­grup­pe. Junge Gewalt­tä­ter müssten schnel­le und deutli­che straf­recht­li­che Konse­quen­zen spüren. Reul warnte «alle und auch die Bundes­in­nen­mi­nis­te­rin» davor, in der Debat­te Schnell­schüs­se zu machen.

Faeser warnte gleich­zei­tig jedoch davor, rassis­ti­sche Ressen­ti­ments zu schüren: «Wer die notwen­di­ge Debat­te ausnutzt, um auszu­gren­zen, löst das Problem nicht, sondern verstärkt es.» Das Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­um will nun ein deutsch­land­wei­tes Lagebild erstel­len lassen. Aus einigen größe­ren Bundes­län­dern seien dafür noch keine Zahlen einge­gan­gen, weshalb dies noch einige Tage in Anspruch nehmen könne, sagte ein Sprecher.

Sachver­stän­di­ger: «gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Gewaltproblem»

Nach Auffas­sung des Politik­wis­sen­schaft­lers Hans Vorlän­der haben die bruta­len Angrif­fe auf Einsatz­kräf­te ein Schlag­licht auf ein Gewalt­pro­blem gewor­fen, das nur durch langfris­ti­ge Inves­ti­tio­nen und Bemühun­gen in den Griff zu bekom­men ist. Sollte dies versäumt werden, drohten Verhält­nis­se wie in manchen franzö­si­schen Vorstäd­ten, warnte Vorlän­der, der Mitglied des Sachver­stän­di­gen­ra­tes für Integra­ti­on und Migra­ti­on (SVR) ist. Dazu gehör­ten auch Angrif­fe auf Polizei oder Feuerwehr.

In Deutsch­land sei ebenfalls, wenn auch in weniger drama­ti­scher Form, «ein gesamt­ge­sell­schaft­li­ches Gewalt­pro­blem» zu beobach­ten, sagte Vorlän­der der Deutschen Presse-Agentur. Dieses Problem existie­re nicht nur in Vierteln mit einem hohem Anteil von Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, sondern sei auch im Umfeld der Corona-Demons­tra­tio­nen aufge­tre­ten, bei rechts­extre­men Aufzü­gen und in der gewalt­be­rei­ten Fußball-Fanszene.

Proble­me gebe es vor allem mit jungen Männern und in einem bestimm­ten Umfeld, da «wo es Proble­me der Unter­brin­gung gibt, wo der Bildungs­stand gering ist» und eine «verbrei­te­te Straßen­kul­tur des Sich-Zeigens, wo der Wunsch nach Anerken­nung auch durch Gewalt­ak­te vorherrscht». Um dem entge­gen­zu­wir­ken, brauche es keine Sonder­pro­jek­te, sondern die «Stärkung der Regel­sys­te­me Schule, Arbeit, Wohnen» sowie der Straf­ver­fol­gung und Justiz.

CSU fordert Mittel­kür­zun­gen für Berlin

Die CSU forder­te derweil finan­zi­el­le Konse­quen­zen für das SPD-geführ­te Berlin. Nach dem Willen von CSU-Landes­grup­pen­chef Alexan­der Dobrindt sollte das Bundes­land weniger Geld aus dem Finanz­topf der Länder erhal­ten. «Der Länder­fi­nanz­aus­gleich setzt erheb­li­che Fehlan­rei­ze und sorgt dafür, dass Ineffi­zi­enz und Misswirt­schaft wie in Berlin finan­zi­ell belohnt werden», sagte Dobrindt der «Bild». «Wer nicht solide wirtschaf­tet und bei Sicher­heit, Verwal­tung und Wahlor­ga­ni­sa­ti­on immer wieder durch Total­ver­sa­gen auffällt, sollte zukünf­tig Abstri­che beim Länder­fi­nanz­aus­gleich akzep­tie­ren müssen.»

Berlins Bürger­meis­te­rin Franzis­ka Giffey (SPD) wies die Kritik von Unions­po­li­ti­kern an ihrem Senat zurück. «Also wir haben in dieser Nacht die volle Mannstär­ke von Polizei und Feuer­wehr, eine Verdrei­fa­chung der Einsatz­kräf­te bei der Feuer­wehr auf der Straße gehabt», sagte Giffey gestern im rbb-Infora­dio. «Ich sehe nicht, dass hier die Polizei einge­schränkt wird.»

CDU-Chef Fried­rich Merz hatte dem «Münch­ner Merkur» zuvor gesagt, das Land Berlin werde mit der Lage nicht fertig. Seit Jahren begren­ze der Senat aus politi­schen Motiven die Rechte und Einsatz­mög­lich­kei­ten der Polizei. CSU-Chef Markus Söder argumen­tier­te ähnlich.

Giffey entgeg­ne­te, Berlin habe die Polizei in den letzten Jahren unter sozial­de­mo­kra­ti­scher Verant­wor­tung massiv aufge­stockt und werde das weiter tun. «Aber es ist auch klar, dass wir hier in Berlin in einer Großstadt eine massi­ve Anhäu­fung auch von Problem­la­gen haben und auch eben die Gewalt sich hier beson­ders entla­den hat.» Das sei aber kein Berli­ner Phäno­men. Merz möge doch mal schau­en, dass das auch in anderen deutschen Städten passiert sei. Giffey kündig­te zudem an, zu einem Gipfel gegen Jugend­ge­walt einla­den zu wollen.