MÜNCHEN (dpa) — Das Missbrauchs­gut­ach­ten für die Erzdiö­ze­se München und Freising erschüt­tert die katho­li­sche Kirche — und viele Gläubi­ge ziehen Konsequenzen.

Nach der Vorstel­lung eines Gutach­tens zu sexuel­ler Gewalt gegen Kinder und Jugend­li­che im katho­li­schen Erzbis­tum München und Freising müssen Standes­äm­ter in Bayern sich für eine Flut von Kirchen­aus­trit­ten rüsten.

Allein in München wurden nach Angaben des Kreis­ver­wal­tungs­re­fe­ra­tes (KVR) seit Veröf­fent­li­chung des Gutach­tens am vergan­ge­nen Donners­tag rund 650 Termi­ne für Kirchen­aus­trit­te gebucht. Das sind deutlich mehr als doppelt so viele wie üblicher­wei­se zu erwar­ten gewesen wäre, wie ein KVR-Sprecher sagte.

Austritt kann auch schrift­lich einge­reicht werden

Um diese Flut zu bewäl­ti­gen, erwei­tert das Standes­amt seine Öffnungs­zei­ten und setzt zwei zusätz­li­che Beschäf­tig­te für Kirchen­aus­trit­te ein. Insge­samt werde die Kapazi­tät «durch Umschich­tung» sogar verdrei­facht, aber selbst das werde voraus­sicht­lich nicht reichen. Das KVR weist darum darauf hin, dass der Kirchen­aus­tritt auch schrift­lich einge­reicht werden kann — wenn die Unter­schrift notari­ell beglau­bigt wird.

Auch die Städte Regens­burg, Ingol­stadt und Würzburg reagie­ren und bauen ihre Kapazi­tä­ten aus. In Würzburg sollen vom 1. Febru­ar an 22 Termi­ne pro Woche zusätz­lich angebo­ten werden. Seit Donners­tag seien dort 50 Anfra­gen wegen eines Kirchen­aus­tritts einge­gan­gen — fünfmal so viele wie im gleichen Zeitraum 2021. Insge­samt traten dort in diesem Jahr 109 Menschen aus der Kirche aus. 70 davon waren katholisch.

Alle Termi­ne ausgebucht

In Ingol­stadt sind alle Termi­ne zum Kirchen­aus­tritt bis Mitte März ausge­bucht. Die Nachfra­ge sei aber so groß, dass «das Standes­amt abseh­bar zusätz­li­che Termin­ka­pa­zi­tä­ten schaf­fen wird», wie ein Sprecher sagte. In Regens­burg will das Standes­amt ab Febru­ar «das Termin­an­ge­bot erweitern».

Nicht weit von München entfernt, in Ebers­berg, wo das Amtsge­richt Ende der 1980er Jahre einen Pries­ter wegen sexuel­len Missbrauchs verur­teil­te, bevor der in einer anderen Gemein­de wieder einge­setzt und dort erneut rückfäl­lig wurde, hat sich die Zahl der Austrit­te in den ersten Wochen des Jahres fast verdop­pelt: Bis zum 26. Januar 2021 waren es 17, in diesem Jahr sind es nach Angaben der Stadt schon 31.

In Bamberg sind seit dem 21. Januar, dem Tag nach der Präsen­ta­ti­on der Studie, nach Angaben eines Stadt­spre­chers 21 Menschen aus der Kirche ausge­tre­ten, 17 davon katho­lisch. Insge­samt gab es dort im Januar 2022 bisher schon 83 Austrit­te, davon 71 katho­lisch. «Auch das ist signi­fi­kant mehr als in den Vorjah­ren», sagte der Sprecher.

In Nürnberg müssen Termi­ne zwei Wochen im Voraus gebucht werden. Wer dort also in dieser Woche aus der Kirche austritt, hat den Termin vor der Vorstel­lung des Gutach­tens gebucht. Bislang liegt die Zahl der Kirchen­aus­trit­te bei Katho­li­ken und Protes­tan­ten dort in diesem Jahr insge­samt schon bei 371. Das sind 73 Prozent mehr als im vergan­ge­nen Jahr bis zum 25. Januar.

Sexuel­ler Missbrauch in der Diöze­se nicht angemes­sen behandelt

Das vom Erzbis­tum München und Freising selbst in Auftrag gegebe­ne Gutach­ten der Anwalts­kanz­lei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) kommt zu dem Ergeb­nis, dass Fälle von sexuel­lem Missbrauch in der Diöze­se über Jahrzehn­te nicht angemes­sen behan­delt wurden; es wirft den Kardi­nä­len und ehema­li­gen Erzbi­schö­fen Fried­rich Wetter und Joseph Ratzin­ger sowie dem aktuel­len, Reinhard Marx, Fehlver­hal­ten vor.

Von mindes­tens 497 Opfern und 235 mutmaß­li­chen Tätern sprechen die Gutach­ter, gehen aber von einem deutlich größe­ren Dunkel­feld aus.