HAMBURG/BERLIN (dpa) — Hohe Energie­kos­ten, steigen­de Preise — die Folgen dieser Entwick­lung sehen auch die Tafeln in Deutsch­land deutlich. Viele, die sonst noch über die Runden kamen, sind nun auf ihre Unter­stüt­zung angewiesen.

Schon eine Stunde vor Öffnung der Lebens­mit­tel­aus­ga­be des Arbei­ter-Samari­ter-Bundes in Hamburg-Jenfeld stehen die Ersten an einem nasskal­ten Tag hinter Flatter­band an. Während sie mit ihren Tüten oder Einkaufs­trol­leys gedul­dig warten, bis eine grüne Ampel Einlass gewährt, bauen drinnen Ehren­amt­li­che Kisten auf — gefüllt mit Salat, Käse oder Brot. In Koope­ra­ti­on mit der Hambur­ger Tafel, die ihre Zentra­le neben­an hat, können Bedürf­ti­ge sich hier einmal wöchent­lich gespen­de­te Lebens­mit­tel abholen. So wie viele der Tafeln in Deutsch­land hat auch diese Ausga­be­stel­le einen Aufnah­me­stopp verhängt. Denn der Ukrai­ne-Krieg und starke Preis­stei­ge­run­gen haben einen enormen Zulauf ausgelöst.

«Die Lage der Tafeln in Deutsch­land ist so heraus­for­dernd wie noch nie zuvor in der 30-jähri­gen Geschich­te», sagt der Vorsit­zen­de des Dachver­ban­des der Tafeln, Jochen Brühl, in Berlin. «Wir haben mehr Kundin­nen und Kunden — gleich­zei­tig werden weniger Lebens­mit­tel gespen­det.» Menschen in der Grund­si­che­rung, Allein­er­zie­hen­de, Rentner, Geflüch­te­te, Obdach­lo­se — mehr als zwei Millio­nen Menschen kommen den Angaben zufol­ge zu den mehr als 960 Tafeln in Deutschland.

Plötz­lich darauf angewiesen

In den vergan­ge­nen Monaten ist eine neue Gruppe hinzu­ge­kom­men: Immer mehr Menschen aus dem Niedrig­lohn-Sektor, die sonst immer noch knapp über die Runden gekom­men seien, seien plötz­lich auf die Unter­stüt­zung der Tafeln angewie­sen, berich­tet Brühl.

Auch in Hamburg ist das spürbar: «Da sind Leute, die vor zwei Monaten nicht damit gerech­net haben, dass sie sich einmal bei der Tafel melden werden», sagt der Geschäfts­füh­rer der Hambur­ger Tafel, Jan-Henrik Hellwe­ge. Viele spürten Scham, zur Tafel zu gehen. «Es ist gesell­schaft­lich tabu, finan­zi­el­le Not zu zeigen.»

Partner­ein­rich­tun­gen überneh­men in der Hanse­stadt die Ausga­be an regis­trier­te Bedürf­ti­ge. Fast alle 31 Lebens­mit­tel-Ausga­be­stel­len haben laut Hellwe­ge einen Aufnah­me­stopp verhängt. Bei der Lebens­mit­tel­aus­ga­be des Arbei­ter-Samari­ter-Bundes in Jenfeld rufen täglich etwa fünf Menschen an, die man erst einmal vertrös­ten müsse, berich­tet Koordi­na­to­rin Danie­la Skaza.

Maike Funk kommt schon seit drei Jahren zu dieser Ausga­be­stel­le. Dieser Schritt sei ihr anfangs sehr schwer gefal­len, erinnert sich die Frührent­ne­rin. Am Eingang zeigt sie einen Nachweis vor und zahlt zwei Euro als kleinen Betrag für die Neben­kos­ten der Aktion. Die Ehren­amt­li­chen versu­chen für die Bedürf­ti­gen, die sie Kunden nennen, eine Atmosphä­re wie in einem Geschäft zu schaf­fen. «Butter?», fragt eine Mitar­bei­te­rin, als Funk vorbei­kommt. «Oh ja, Kekse backen», freut sich die 60-Jähri­ge und verstaut die Ware in ihren Tüten.

Es kommt immer weniger an

«Das Wichtigs­te ist es, den Menschen frische Lebens­mit­tel zur Verfü­gung zu stellen, damit sie richtig kochen können», erklärt Tafel-Geschäfts­füh­rer Hellwe­ge. Im Lager der Hambur­ger Zentra­le stapeln sich überschüs­si­ge Lebens­mit­tel, die Händler und Herstel­ler abgege­ben haben. Doch es sind weniger als in frühe­ren Zeiten.

«Schon länger bemüht sich der Handel durch verschie­de­ne Strate­gien, weniger zu verschwen­den», sagt Brühl vom Dachver­band der Tafeln. «Durch den Krieg sind zudem Logis­tik­ket­ten gestört. Deshalb gibt es weniger Überschüsse.»

Die Menge der Lebens­mit­tel, die an von Armut Betrof­fe­ne ausge­ge­ben wird, hat nach Angaben des Dachver­ban­des deshalb vieler­orts reduziert werden müssen. Zudem seien die Tafeln selbst von den Preis­stei­ge­run­gen etwa für Energie und Trans­port betrof­fen. «Die Tafeln sind am Limit», sagt Brühl. Bereits seit Beginn der Pande­mie müssten die Ehren­amt­li­chen viel leisten — oft spüre man bei den Helfern Erschöp­fung. Brühl betont, er sei mit Blick auf die kommen­den Monate äußerst besorgt.

Viele Tafeln bieten weit mehr als eine Lebens­mit­tel­aus­ga­be — etwa warmes Mittag­essen, Bring­diens­te oder Kleider­kam­mern. «Die Arbeit der Tafel überall in Deutsch­land verdient unser aller Respekt und Anerken­nung», sagt die Vorstands­vor­sit­zen­de des Sozial­ver­ban­des Deutsch­land, Michae­la Engel­mei­er. «Denn so traurig es ist: In Zeiten von Rekord-Infla­ti­on und Preis­explo­si­on können sich eben viele nicht einmal mehr das Essen leisten.» Aber das ehren­amt­li­che Engage­ment der Tafeln dürfe bei Politik und Behör­den nicht vorab als verläss­li­che Größe mit einge­rech­net und damit Verant­wor­tung abgege­ben werden.

Brühl kriti­siert, dass staat­li­che Leistun­gen oft nicht zielge­nau seien und appel­liert: «Armut ist nicht ein Problem der Armen, sondern ein Problem der Gesell­schaft als Ganzes — das scheint noch nicht bei allen angekom­men zu sein.»

Von Stepha­nie Lettgen, dpa