NUSA DUA/KIEW/WARSCHAU (dpa) — Die Nachricht vom Einschlag einer Rakete auf Nato-Gebiet in Polen erreicht US-Präsi­dent Joe Biden beim G20-Gipfel auf Bali. Ein Angriff aus Russland — oder ein ukrai­ni­scher Abwehrversuch?

Zeitgleich mit neuen massi­ven russi­schen Luftan­grif­fen auf die Ukrai­ne schlug am Diens­tag eine Rakete auf dem Gebiet des Nato-Mitglieds Polen ein. Mindes­tens zwei Menschen starben dabei. Im Kreis der G7-Staaten und Nato-Partner, von denen viele Staats- und Regie­rungs­chefs wegen des G20-Gipfels am Mittwoch auf Bali zusam­men­sa­ßen, hatte das eine Reihe von Krisen­sit­zun­gen zur Folge.

US-Präsi­dent Joe Biden zufol­ge deuten erste Erkennt­nis­se zur Flugbahn der Rakete darauf hin, dass sie nicht aus Russland abgefeu­ert wurde — mögli­cher­wei­se eine Flugab­wehr­ra­ke­te der Ukrai­ne? Viele Fragen sind noch offen. Ein Überblick:

Was ist bislang über den Raketen­ein­schlag bekannt?

Nach Angaben des polni­schen Außen­mi­nis­te­ri­ums handelt es sich um eine Rakete aus russi­scher Produk­ti­on. Sie schlug am Diens­tag­nach­mit­tag auf dem Gelän­de eines landwirt­schaft­li­chen Betriebs in Przewo­dow ein — einem Dorf ganz im Osten des Landes, keine zehn Kilome­ter von der Grenze zur Ukrai­ne entfernt. Zwei polni­sche Staats­bür­ger starben dabei.

Wer hat die Rakete abgefeuert?

Darüber gab es auch nach Stunden noch keine gesicher­ten Erkennt­nis­se. Polens Präsi­dent Andrzej Duda sagte: «Wir wissen, dass es praktisch den ganzen Tag über einen russi­schen Raketen­an­griff auf die Ukrai­ne gegeben hat. Aber wir haben derzeit keine eindeu­ti­gen Bewei­se dafür, wer die Rakete abgefeu­ert hat. Die Ermitt­lun­gen laufen.»

Biden sagte am Mittwoch am Rande des G20-Gipfels, die Flugbahn der Rakete lasse es «unwahr­schein­lich» erschei­nen, dass sie aus Russland abgefeu­ert wurde. Später berich­te­te er nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur in einer der Krisen­sit­zun­gen hinter verschlos­se­nen Türen, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugab­wehr­ra­ke­te aus Bestän­den der Ukrai­ne handeln könnte.

Was ist über die Rakete bekannt?

Erste Fotos von Trümmer­tei­len an der Einschlag­stel­le deute­ten für Exper­ten auf eine Rakete des Flugab­wehr­sys­tems S‑300 hin. Auch Biden soll von einer solchen Rakete gespro­chen haben. Das System S‑300 ist sowje­ti­scher Bauart und heute wesent­li­cher Bestand­teil der ukrai­ni­schen Flugab­wehr gegen die russi­schen Angrif­fe. Allein am Diens­tag feuer­te Russland nach Kiewer Zählung mehr als 90 Raketen und Marsch­flug­kör­per ab.

Wie reagiert Polen?

Der Nato-Staat zwischen Deutsch­land und der Ukrai­ne versetz­te Teile seiner Streit­kräf­te in erhöh­te Alarm­be­reit­schaft. Warschau bestell­te zudem den russi­schen Botschaf­ter ein und alarmier­te die Nato. Ein Regie­rungs­spre­cher erklär­te anschlie­ßend, man habe mit den Nato-Verbün­de­ten beschlos­sen zu überprü­fen, ob es Gründe gebe, die Verfah­ren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzu­lei­ten. Am Mittwoch­vor­mit­tag wollten die ständi­gen Vertre­ter der Bündnis­staa­ten bei der Nato in Brüssel zu einer Krisen­sit­zung zusammenkommen.

Was regelt der Artikel 4?

Er sieht Beratun­gen der Nato-Staaten vor, wenn einer von ihnen die Unver­sehrt­heit seines Gebiets, die politi­sche Unabhän­gig­keit oder die eigene Sicher­heit bedroht sieht. Konkret heißt es darin: «Die Partei­en werden einan­der konsul­tie­ren, wenn nach Auffas­sung einer von ihnen die Unver­sehrt­heit des Gebiets, die politi­sche Unabhän­gig­keit oder die Sicher­heit einer der Partei­en bedroht ist.» Konkre­te Reaktio­nen muss das nicht zur Folge haben.

Der Artikel wurde Nato-Angaben zufol­ge seit der Gründung des Bündnis­ses 1949 sieben Mal in Anspruch genom­men — zuletzt am 24. Febru­ar, dem Tag des russi­schen Überfalls auf die Ukrai­ne. Beantragt wurde das damals von Bulga­ri­en, Estland, Lettland, Litau­en, Polen, Rumäni­en, der Slowa­kei und der Tsche­chi­schen Republik.

Warum beantragt Polen nicht den Bündnis­fall nach Artikel 5?

Weil es bislang keine Hinwei­se darauf gibt, dass die Rakete gezielt auf das polni­sche Dorf abgefeu­ert wurde. In Artikel 5 ist geregelt, dass die Nato-Staaten einen bewaff­ne­ten Angriff gegen einen oder mehre­re Partner als Angriff gegen alle ansehen. Daraus ergibt sich die Verpflich­tung, Beistand zu leisten.

Artikel 5 wurde erst ein einzi­ges Mal aktiviert worden — nach den Terror­an­schlä­gen vom 11. Septem­ber 2001 in den USA. Dies führte dazu, dass Deutsch­land und andere Nato-Staaten sich am Krieg gegen die Taliban und die Terror­or­ga­ni­sa­ti­on Al-Kaida in Afgha­ni­stan beteiligten.

Wie reagie­ren die Partner Polens?

Die Staats- und Regie­rungs­chefs der sieben großen westli­chen Demokra­tien (G7) erfuh­ren vom Einschlag der Rakete mehr als 11.000 Kilome­ter weiter — beim G20-Gipfel auf Bali. Zum Zeitpunkt der Explo­si­on saßen die meisten dort gerade bei einem Abend­essen unter freiem Himmel. Russlands Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow, der Kreml­chef Wladi­mir Putin vertrat, hatte die indone­si­sche Insel in diesem Moment schon verlas­sen. Am Morgen danach berief Biden dann die Krisen­sit­zung ein. Später wurde eine Erklä­rung veröf­fent­licht, in der es heißt: «Wir bieten Polen unsere volle Unter­stüt­zung und Hilfe bei den laufen­den Ermitt­lun­gen an.» Zugleich wurde Russland für «barba­ri­sche Angrif­fe» verant­wort­lich gemacht.

Von Ansgar Haase und Chris­toph Sator, dpa